Die AZ beim Anstich im Schottenhamel: Was im Fernsehen nicht zu sehen war

München - Es zischt, es schäumt, und noch ein drittes Mal haut Dieter Reiter den Schlegel gegen den Hirschen, bevor er um Punkt 12 sein "Ozapft is" ins Mikro schmettern kann.
Und Clemens Baumgärtner, der anderthalb Meter dahinter steht beim Wiesneröffnungsritual im Schottenhamel-Festzelt, wird später mit breiter Brust sagen: "Bombig hat er's gmacht, der OB" nach den zwei Jahren Wiesn-Pause. Der eine Schlag mehr als sonst? A geh.
Abschied vom Coronaschrecken
Die Wahrheit ist, diese Wiesn 2022, mit der München den Abschied vom Coronaschrecken feiert und die Wiederauferstehung der Feierfreude, sie ist weniger die Wiesn vom SPD-OB als die des CSU-Wirtschaftsreferenten und Wiesnchefs Baumgärtner. Ist er nicht der Einzige auf weiter Flur gewesen, der seit Monaten unbeirrt verkündet hat, das Oktoberfest werde stattfinden - trotz aller Unkenrufe, es werde schon noch abgesagt werden?

Sein Siegerstolz lässt sich, nebenbei, auch an seinem Beinkleid ablesen. Auf seiner Ledernen prangt, zartgrün eingestickt, das neue Oktoberfestlogo "O" der Stadt - sie ist das allererste Exemplar der Meindl-Kollektion, die erst nächstes Jahr auf den Markt kommt. Der OB hat noch keine.
Witzeleien über Baumgärtner
"Wiesn-Napoleon", witzelt denn auch Einer, als Baumgärtner sein Outfit draußen auf dem Schottenhamelbalkon bei Licht vorführt. Läuft sich da schon einer leise warm für die nächste OB-Wahl? Immerhin ist auch Dieter Reiter vor seiner Wahl zum Stadtoberhaupt, wie Baumgärtner, Wirtschaftsreferent und Wiesnchef gewesen.

Angeblich politikfreie Zone
Aber der Eröffnungstag der Wiesn ist eine (angeblich) politikfreie Zone – und deshalb dreht sich droben in der Ratsboxe, wo sich, wie gewohnt, die geladene Politprominenz der Stadt mit ihren Gästen versammelt hat, heute alles nur ums Sehen, Gesehenwerden und Feiern.
Die Stadtratsgrünen haben ihre Bundeschefin Ricarda Lang zum Schaulaufen kommen lassen, die FDP ihren Bayernchef Martin Hagen, die SPD muss auf ihren Bundeschef verzichten, Lars Klingbeil sei an einem ausgefallenen Lufthansaflug gescheitert, heißt es. Für die CSU ist sowieso Ministerpräsident Markus Söder da.
Erste Wiesnmaß ging an Söder
Der hat vom OB heuer zum zweiten Mal die erste Wiesnmaß nach dem Anstich bekommen – und seine Kurzansprache genutzt, bestimmt nicht überhört zu werden: "Jeder soll auf dieser Wiesn anziehen, was er will, jeder soll essen, was er will, und wenn hier mal die Band ein Lied spielt, das nicht jedem gefällt, dann soll auch jeder singen können, was er will."
Hoppala, ein Aufruf, das wegen seines sexistischen Textes umstrittene Lied Layla zu spielen? Die Menge klatscht, dazwischen sind Pfiffe zu hören, die aber untergehen, ehe Söder fürs Hendlessen mit dem OB die Empore erklimmt.

Ausgelassene Stimmung ohne Maske
Wer erwartet hat, den Politbalkon virussorgebedingt leerer vorzufinden als während früherer Eröffnungswiesn – oder Gesichter, denen zumindest ein mulmiges Gefühl anzusehen wäre, wird eines Besseren belehrt. Die Tische sind voll, man rutscht eng zusammen, herzt und busselt sich, die Stimmung ist ausgelassen. Maske trägt hier niemand. Die Bürgermeisterinnen Verena Dietl (SPD) und Katrin Habenschaden (Grüne) haben mit Wiesnstadträtin Anja Berger als grün-rotes Damentrio per Kutsche durchs Volk fahren dürfen und lächeln entsprechend glückselig.

Entspannung bei der Sicherheits-Chefin
Münchens neue KVR-Chefin Hanna Sammüller-Gradl, die für die Wiesnsicherheit zuständig ist und angespannt sein könnte, sagt heiter: "Mein Aufregungspegel ist gerade von zehn auf acht gesunken, wenn ich gleich die erste Radlermaß auf dem Tisch habe, komme ich auf sechs." Laura Dornheim, die neue IT-Chefin der Stadt, frisch zugezogen aus Berlin, wirkt ebenso entspannt: "Meine Oma hat 30 Jahre auf der Wiesn bedient und hätte sich gefreut, wenn sie mich heute mit Dirndl hier gesehen hätte."

Beste Laune am CSU-Tisch
Auch am CSU-Tisch nur bestgelaunte Gesichter. Stadträtin Ulrike Grimm schwärmt, sich "heute früh ganz aufgeregt wie ein kleines Mädchen auf die Wiesn gefreut" zu haben, genau wie Kommunalreferentin Kristina Frank. Hans Theiss, der nicht nur Stadtrat, sondern auch Kardiologe ist, sagt: "Ich hätte mir gewünscht, dass die Impfquote vorher höher gewesen wäre. Ich finde es aber richtig, dass die Wiesn wieder stattfindet, um zu zeigen, dass das Leben irgendwann auch weitergeht."

Aiwanger beim Granteln erwischt
Immerhin Bürgermeisterin Verena Dietl bleibt, bei aller Freude, ein bisschen nachdenklich: "Es ist schön, dass unser wichtigstes Fest wieder stattfindet. Und jetzt geht hoffentlich alles gut." Immerhin Einer wird wirklich beim Granteln erwischt, aber aus anderen Gründen: Hubert Aiwanger, Vize-Ministerpräsident von den Freien Wählern, der vom Protokoll als Ehrengast an Dietls Tisch gewürfelt worden ist, mäkelt über die Kurzansprachen von Reiter und Söder beim Anzapfritual:
"Sie hätten schon ein paar mehr Sätze zu Bayern und zur Gemütslage der Bevölkerung sagen können", erklärt er im Gespräch mit der AZ. "Das war schon etwas dünn." Was CSU-Fraktionschef Manuel Pretzl nicht so stehen lassen will: "Das ist totaler Quatsch!", schnaubt er. "Die Wiesn war nie politisch und das ist auch richtig so."

"Jeder soll singen, was er mag"
Und so mag sich niemand auf diesem Festzeltbalkon durch lästige Fragen die Laune verderben lassen, auch der Ministerpräsident nicht. Ob seine Bemerkung zur Musik eine Aufforderung war, den Layla-Song zu spielen? "Jeder soll singen, was er mag", brummt Söder nur, als die AZ ihn drauf anspricht. Und ob OB Dieter Reiter die Pfiffe gegen Markus Söder gehört habe? "Nein", versichert der OB und grinst dabei nur ein ganz kleines bisschen wie ein Spitzbub. Er sei vor dem Anzapfen so im Tunnel, er habe gar nichts gehört.
Spaßvogel spielt Layla
Zum Weghören entschließen sich die Herrschaften auf dem Balkon auch, als plötzlich "Layla" das Zelt beschallt – offenbar weil ein Spaßvogel dem Kapellmeister einen Streich spielen wollte. Und so beschließt Clemens Baumgärtner, der Wiesn-Napoleon, den Tag mit größter Selbstzufriedenheit: "Die Wiesn heuer, das ist wie ein Vakuum, das sich langsam löst. Schöner könnt's eigentlich gar ned sein."