Das Geheimnis der Krinoline auf der Wiesn in München: Familienbetrieb in vierter Generation

München - Matthias Niederländer sitzt schon die dritte Stunde in seiner klitzekleinen Wirkungsstätte: in der Fahrerkabine. Gerade ist dort wieder mal seine Muskelkraft gefragt, um das wuchtige alte Bremsrad zu bewegen, und dann geht's schon wieder weiter am Mikrofon – mit der gleichen Freude und Begeisterung wie an jedem einzelnen Wiesntag, ob früh oder spät.
"Einfach einmalig": Die Krinoline auf dem Oktoberfest wird 100
"Hereinspaziert, meine Herrschaften!", ruft Niederländer ins Mikro: "Heute gibt es eine Sonderfahrt mit Überschlag. Bitte Sicherheitsgurte anlegen." Lachen erschallt, einige klatschen, alle strahlen, wie der Rekommandeur in seiner Kabine selbst. "Das ist doch wunderschön", sagt er der AZ: "Einfach einmalig!" Damit hat Matthias Niederländer (53) fraglos recht. Seine Krinoline und die Stimmung, die dort herrscht, sind etwas Einmaliges. Sein gemütliches historisches Fahrgeschäft ist längst eine Institution: fröhlich, generationsübergreifend und mit viel nostalgischem Flair.

Heuer feiert die Krinoline einen beachtlichen Geburtstag: Sie wird 100 Jahre alt (vier weniger als ihr bislang ältester Fahrgast, eine 104-jährige Münchnerin). "Da steckt viel Herzblut drin", sagt Matthias Niederländer, der das walzerschwingende Karussell, Baujahr 1924, in vierter Generation führt.

Krinoline wird 100: Was sie noch nicht über das legendäre Wiesn-Fahrgeschäft wussten
Los ging die Familiengeschichte mit seinem Urgroßvater Michael Großmann, der die Krinoline – benannt nach dem ausladenden Reifrock früherer Zeiten – 1925 zum ersten Mal auf der Wiesn aufgestellt hatte. Für musikalische Begleitung sorgte damals noch eine Orgel. 1939 wurde die Krinoline-Blaskapelle eingeführt. Bis heute spielen auf einem kleinen Podium am Karussell täglich fünf Musiker (und inzwischen auch Musikerinnen) "live" auf. Das gibt es bei keinem anderen Fahrgeschäft, wie Niederländer vermutet, wahrscheinlich weltweit.

In den Anfangsjahren sorgten je drei bis vier starke Männer dafür, die Schwankung des Karussells zu erzeugen. Michael Großmann gelang dann schließlich eine (patentierte) Erfindung, durch die sich die Krinoline seit 1938 nicht mehr durch Muskelkraft, sondern elektromechanisch wie ein schwingender Reifrock bewegen kann.
Antrieb mit Planetengetriebe: So funktioniert die Krinoline auf dem Oktoberfest
Diesen Antrieb mittels Planetengetriebe und starken Zugfedern kann man noch heute oben am Krinoline-Mast bewundern, um den die Platte mit den Gondeln schwebt. Ab 1961, nach dem Tod ihres Mannes, führte Maria Großmann das Fahrgeschäft mit ihren Söhnen weiter, die beide 1971 viel zu früh verstarben. "Ein sehr schwerer Schicksalsschlag", sagt der Urgroßenkel, der auch erzählt, dass Maria Großmann von den Münchnern "liebevoll Krinoline-Oma genannt" wurde.

Sie betrieb das Karussell bis ins hohe Alter, unterstützt vom Enkel Theodor Niederländer und dessen Frau Anita. Noch mit 83 Jahren kassierte sie, wie's bei dem traditionsreichen Karussell seit jeher üblich ist, während der Fahrt in den Gondeln. Bis 2007 führte Theodor Niederländer die ehrwürdige Krinoline, die in dieser Zeit behutsam restauriert und modernisiert wurde. Sohn Matthias, ein gelernter Bankkaufmann und Betriebswirt, bekam die Verantwortung für das Familienfahrgeschäft zur 175. Wiesn im Jahr 2008 übertragen.
"Eine Lebensaufgabe": Was der Betreiber der Krinoline auf dem Oktoberfest zu seinem Fahrgeschäft sagt.
Auf die Frage, was ihm die Krinoline bedeutet, kommt die Antwort prompt: "Alles!", schießt es aus Niederländer geradezu heraus: "Es ist eine Lebensaufgabe, das Karussell in Schuss zu halten und für die Wiesn zu erhalten. Ich sehe es auch als denkmalschützerische Aufgabe." Mit Rat und Tat wird er dabei nicht nur von seiner Frau Helene und seinem inzwischen 87-jährigen Vater unterstützt. Mit Sohn Louis, 31-jähriger Hotelfachmann, ist auch schon die fünfte Generation gesichert.

Den 100. Geburtstag ihres einzigartigen Karussells feierte die Familie jetzt mit einer Premiere: Erstmals spielte die hauseigene Blaskapelle nicht nur in kleiner fünfköpfiger Besetzung auf dem Mini-Podium. Zum Jubiläum gab's ein großes Platzkonzert vor der Krinoline. Dort versammelten sich junge und alte Fans. Viele haben ihre eigene Geschichte mit dieser Wiesn-Institution. Die AZ erfuhr von einem Heiratsantrag anno dazumal in einer Gondel. Ein alter Herr wischte sich in Erinnerung an die Fahrten mit seiner verstorbenen Frau über die Augen. Eine Studentin erzählte lachend, dass sie früher mit ihren Eltern in der Krinoline immer auch ihren Plüschhasen dabei hatte. "Bei uns fahren ganze Generationen mit", sagt Matthias Niederländer und verschwindet wieder in seiner Fahrerkabine: "Steigen Sie ein! Gleich geht's wieder los!" Hoffentlich noch mindestens weitere 100 Jahre.