Oktoberfest-Anschlag: Eine Wunde, die nie verheilt
Gabriele S. ist bei dem Oktoberfest-Anschlag im Jahr 1980 schwer verletzt worden. Sie flog durch die Luft, in einem Hagel von Bombensplittern und scharfkantigen Abfallkorb-Resten. Die Angst ist bis heute geblieben.
Wenn sie diesen aufdringlichen Tischnachbarn nur besser ertragen hätte. Nur fünf Minuten länger. Oder sich umgesetzt hätte, an die andere Ecke des Biertischs. So aber stand Gabriele S. um kurz nach zehn Uhr auf und verließ das Augustinerzelt, genervt und enttäuscht. „Den Abend hatte ich mir schöner vorgestellt“, sagte sie noch zu den Freunden, die sie zum Taxi begleiteten – in diesem Moment explodierte die Bombe, nur fünf Meter von ihr entfernt. Eine Stichflamme, ein Feuerball, ein unheimliches Zischen. Gabriele S. flog durch die Luft, in einem Hagel von Bombensplittern und scharfkantigen Abfallkorb-Resten. Am Wiesn-Eingang blieb die Normal-Uhr stehen: 22.19 Uhr.
Das Oktoberfest-Attentat vom 26. September 1980 war mit 13 Toten und 211 Verletzten der blutigste Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik. 68 der Opfer wurden schwer verletzt, eines davon war Gabriele S. „Ich lag auf der Erde und tastete immer nur nach meiner Brille. Dann wollte ich aufstehen, aber der Fuß hing weg. Meine Freundin neben mir schrie: Ich verblute, ich verblute – ihr war die Ferse weggesprengt worden. Ich aber fühlte nichts, keine Schmerzen, keine Angst.“ Die kam erst später. Um dann nie wieder zu verschwinden.
Gabriele S., 35 Jahre alt, wurde mit schweren Splitterverletzungen am Bein und Sprunggelenk ins Klinikum Großhadern eingeliefert. „Acht bis zehn Monate bis zur Heilung“, hoffte sie, als die AZ sie damals besuchte. Es dauerte viel länger, zehn Operationen wurden nötig und doch blieben Wunden zurück, die kein Eingriff heilen konnte. „Die Zeit vor dem Attentat war die schönste Zeit meines Lebens“, sagt sie heute. „Nachher war alles so viel trauriger.“
Eine großzügige Etagenwohnung in Dachau mit Blick ins Grüne, blühende Pflanzen auf dem Balkon, penible Ordnung. Hier lebt Gabriele S. (65), blond, schlank, sehr gepflegt, sehr freundlich, mit ihrer 95-jährigen Mutter. „Ich bin heim, als vor 20 Jahren mein Vater starb. Früher war ich sehr unternehmungslustig – Skifahren in Kitzbühel, im Sommer an den Wörthersee... Danach bin ich nie wieder ins Schwimmbad gegangen. Oder auf die Skipiste.“
Vorher – nachher. Wie hart das Schicksal sein kann. Dem Freund, der direkt neben ihr stand damals, ist nichts passiert, gar nichts. Die Freundin, ein kleines Stück dahinter, trägt seither orthopädische Schuhe. Gabriele S. nicht. Wenn sie nicht länger sitzen oder stehen kann – meist nach etwa zwei Stunden –, dann geht sie ein paar Schritte oder setzt sich einen Moment hin. Ihre Schuhe müssen immer einen kleinen Absatz haben, weil ihr Fußgelenk versteift wurde. Sie lächelt wehmütig. „Ich weiß, es hätte viel schlimmer kommen können.“
Januar 1981. Der Professor, Experte für schwierige orthopädische Eingriffe, blickte auf das Bein von Gabriele S., die auf eigene Verantwortung das Münchner Klinikum verlassen und bei ihm in Garmisch vorgesprochen hatte. „Er schaute mich an und dann wieder mein Bein, dann wieder mich, dann sagte er zu mir: Sie sind so jung und nett.Eigentlich müsste man den Fuß abnehmen, aber in Ihrem Fall...“ Ein Jahr lang blieb Gabriele S. bei ihm, in einer Art „Zauberberg-Atmosphäre“.
„Ich hatte meine Behandlungen, meine Mahlzeiten mit den anderen Patienten, am Nachmittag haben wir Karten gespielt – ich war in einer heilen Welt. Ich wollte gar nicht hinaus, ich hatte Angst, es könnte etwas passieren.“
Die Angst, da war sie. „Der Professor entfernte meinen Gips und sagte: Jetzt treten Sie auf, Sie können das! Nein, rief ich, ich kann nicht – der Fuß bricht wieder zusammen!“ Angst, wenn der Sanka mit Blaulicht vorbeifuhr, Angst, wenn eine Tür laut ins Schloss fiel. Angst vor dem Fahrradfahren, weil sie das Gleichgewicht verlieren könnte, Angst vor fremden Menschen, Angst vor dem Dachauer Volksfest, vor der Wiesn sowieso. Und das alles ist bis heute so geblieben.
Eine kleine Notiz aus der AZ vom November 1980: „Die Sozialdienste wundern sich, warum so wenige Opfer des Wiesn-Attentats ihre psycho-soziale Hilfe annehmen.“ Gabriele S. schaut überrascht. „Ich habe überhaupt nichts davon gewusst! Die hätten nur zu mir kommen müssen! Ich lag doch monatelang im Krankenhaus, jede Hilfe wäre willkommen gewesen.“
Dafür wusste das Versorgungsamt sehr schnell, wo es die zunächst zu 100 Prozent erwerbsunfähig eingestufte Gabriele S. finden konnte. „Lass’ mich erzählen!“ Die Mutter mischt sich zum ersten Mal ein, plötzlich sehr erbost. „Dieser Doktor vom Amt rief mich an: Ihre Tochter muss sich sofort bei mir vorstellen. Ich sage zu ihm, das kann sie nicht. Sie liegt doch noch mit Gips fest im Bett und hat noch viele Operationen vor sich! Aber der hat mir nicht geglaubt.“ Gabriele S., nüchtern: „Den anderen ging’s genauso. Wir haben uns gefühlt wie der letzte Dreck.“ Retter war bei ihr wieder einmal der Garmischer Professor, der in München anrief und nur kühl fragte: „Herr Kollege, können Sie keine Röntgenbilder lesen?“
Heute ist Gabriele S., die später wieder als Sekretärin gearbeitet hat, zu 60 Prozent erwerbsunfähig. Aus dem öffentlichen Spendentopf, der gleich nach dem Attentat eingerichtet wurde, hat sie wie alle anderen ihren prozentualen Anteil bekommen, mehr Entschädigung gab es nicht: „Ich weiß gar nicht mehr, wie viel das war – eine große Summe bestimmt nicht.“
Mit ihrem Lebensgefährten, der nicht weit entfernt von ihr wohnt, unternimmt sie viel. „Das Leben muss ja weitergehen.“ Die depressiven Phasen seien nicht so schlimm. An die Einzeltäter-Theorie glaubt sie nicht: „Das tut doch ohnehin niemand, oder?“
Zu den anderen Attentatsopfern hat sie kaum Kontakt. Am meisten noch zu den beiden Freunden, die sie damals, vor 30 Jahren, zum Taxi bringen wollten. Die beiden wurden heuer von der Stadt München zu einem kleinen Empfang geladen. Gabriele S. nicht. Sie rief an und fragte nach. Große Entschuldigung – die Liste sei wohl nicht vollständig. Und selbstverständlich sei auch sie willkommen. Gabriele S. winkte ab. „Diese Treffen“, sagt sie, „die bringen mir eh nichts. Was mich freuen würde, wäre zum Beispiel so was wie ein Blumenstrauß – ein Zeichen, dass man sich erinnert.“ Ein Zeichen, das man der Angst entgegensetzen könnte.
Die Autorin Elke Reichart (damals Dietrich) hatte als AZ-Reporterin am Abend des 26. September 1980 Dienst. S
Elke Reichart