"Ohne Sport kann ich nicht leben"
Manchmal stellt sich Mahir Aydogan vor, er wäre Fußballer – so torgefährlich, dass die deutsche und die türkische Nationalmannschaft um ihn buhlen. Für welche Nation er wohl spielen würde? Wie Mesut Özil für das Land, in dem er geboren wurde? Oder wie Nuri Sahin für das Land, aus dem seine Eltern stammen? „Eine schwere Entscheidung, für die ich mir viel Zeit nehmen würde.” Der junge Münchner lächelt verträumt, sein Blick geht in die Ferne. Dann wird der 22-Jährige plötzlich sehr ernst. „Aber diese Frage stellt sich ja nicht.” Mahir Aydogan hat noch nie Fußball gespielt und er wird es auch niemals tun. Mahir Aydogan sitzt im Rollstuhl. Schon immer.
Mahirs Eltern ziehen vor mehr als 20 Jahren von Malatya in Ost-Anatolien nach München. Sie finden eine Wohnung am Kieferngarten, der Vater eröffnet ein Café, das Ehepaar freut sich auf die Geburt seines ersten Kindes. Dann der Schock: Der Kleine kommt mit Spina bifida zur Welt, sein Rückenmarkskanal ist beschädigt. „Wir müssen sofort operieren, sonst stirbt er”, sagen die Ärzte. „Damals hatten sie noch Hoffnung, dass ich nicht immer im Rollstuhl sitzen muss.” Mahir selbst glaubt längst nicht mehr an ein Wunder. Seine Beine können ihn bis heute nicht tragen, in den Zehen hat er kaum Gefühl.
Als Grundschüler wird Mahir ein Gehapparat umgeschnallt, damit er selbstständig auf die Toilette und in die Pause laufen kann. Nachts muss er an den Beinen Schienen tragen, damit sich die Sehnen nicht weiter verkürzen. Irgendwann hat er von beidem genug. „Vom Gehapparat hatte ich überall Druckstellen, wegen der Schienen konnte ich mich im Bett nicht umdrehen”, erzählt er, und dass er schon damals am Sinn der Gerätschaften gezweifelt hat. „Spina bifida”, sagt Mahir nüchtern, „ist eine Krankheit, da sitzt du im Rollstuhl – dein Leben lang.”
Sport will Mahir aber trotzdem treiben, und als eine Lehrerin dem Zehnjährigen erzählt, dass es beim Universitäts-Sportclub München (USC) eine Abteilung für Rollstuhl-Basketball gibt, meldet er sich an. Seitdem trainiert er zwei Mal pro Woche und fährt mit seiner Mannschaft zu Punktspielen in ganz Bayern.
Wenn er nicht gerade im Krankenhaus liegt wie so oft, etwa im Sommer 2005. Durch das ständige Sitzen im Rollstuhl hat sich Mahirs Wirbelsäule verkrümmt. Sein Arzt rät ihm, sie mit einem Stab begradigen und stabilisieren zu lassen. Mahirs erster Gedanke gilt dem Basketball: „Ich wollte die Operation nicht – wegen meinem Sport. Ich wusste, mit dem Stab im Rücken kann ich mich nicht mehr so frei bewegen wie vorher.” Aber sein Gesundheitszustand lässt dem jungen Mann keine Wahl. „Meine Wirbelsäule drückte schon auf die Lunge, ich bekam immer schlechter Luft.” In einer Wasserburger Spezialklinik wird Mahir schließlich der Stab eingesetzt. Er reicht von den Schultern bis zum Becken und ist mit 27Schrauben befestigt.
So bald es möglich ist, wirft Mahir nach der OP wieder Körbe. „Ohne Sport könnte ich nicht leben”, sagt er. „Wenn ich Stress habe, sauer bin oder depri, spiele ich Basketball. Da werfe ich mir die Wut vom Leib und lenke mich ab. Wenn ich mich darauf konzentriere, was der Trainer sagt, vergesse ich alles andere.”
Doch dann trifft ihn erneut ein schwerer Schicksalsschlag. Die Ärzte finden heraus, dass seine linke Niere gar nicht mehr arbeitet und die rechte nur noch 87 Prozent ihrer Leistung erbringt. „17 Prozent Nierenfunktion trennen mich noch von der Dialyse. Aber ich werde kämpfen.” Um seine rechte Niere zu unterstützen, muss er eine strenge Diät einhalten. „Kaliumarm und natriumreich”, erklärt er. Und wieder sorgt sich Mahir Aydogan um seinen Sport. Denn wer zur Blutwäsche muss, bekommt einen Katheter gelegt, der einen dauerhaften Zugang zum Gefäßsystem ermöglicht – entweder am Arm oder im Brustbereich. „Am Arm stört das beim Basketball bestimmt”, fürchtet Mahir, der unbedingt weitertrainieren möchte.
Und wieder gibt es ein Problem – allerdings eines, das sich durch Spenden lösen lässt: Sein Sportrollstuhl passt dem jungen Mann nicht mehr. „Ich habe ihn als Kind gekriegt und er ist leider nicht mit mir mitgewachsen.” Mahir bekommt Druckstellen, findet in dem alten Gefährt keinen Halt mehr und ist darum auch nicht mehr so wendig. Beim letzten Turnier musste er seine Mannschaft deshalb vom Spielfeldrand anfeuern.
Sportrollstühle werden individuell an den Körper und die Bedürfnisse ihres Besitzers angepasst. Jedes Exemplar ist deshalb ein Einzelstück – und das hat seinen Preis: Das Modell „Hurricane”, von dem Mahir Aydogan träumt („er ist schnell, wendig und sieht so schön sportlich aus”), kostet über 5000 Euro. Ein kleines Vermögen, das Mahir selbst aufbringen müsste, weil die Krankenkasse die Kostenübernahme abgelehnt hat. Ein kleines Vermögen – das der junge Münchner, der noch bei seinen Eltern wohnt, nicht hat.
Weil er so oft im Krankenhaus war, musste er die Hauptschule ohne Quali verlassen. Obwohl er anschließend ein spezielles Training absolviert hat, findet er wegen der häufigen Fehlzeiten keinen Ausbildungsplatz. Im Moment arbeitet er für 75 Euro im Monat in einer Behindertenwerkstatt.
„Ich könnte HartzIV beantragen. Aber ich will kein Geld von der Arbeitsagentur, ich will einen Ausbildungsplatz”, sagt er tapfer. „Andere aus meiner Mannschaft mit derselben Krankheit haben das ebenfalls geschafft.” Wie sie will auch Mahir Aydogan weiterkämpfen – auf dem Basketball-Platz und im Leben. Einfach aufzugeben, käme dem Sportler nie in den Sinn.