Oberlandesgericht-Pressesprecher aus München: "Vor dem Gesetz sind doch alle gleich"

München - Von seinem Büro im siebten Stock des Münchner Strafjustizzentrums reicht der Blick bis zu den Alpen. Laurent Lafleur, 49 Jahre alt, ist Pressesprecher des Oberlandesgerichts (OLG) und seit 17 Jahren bei der bayerischen Justiz. Zunächst als Staatsanwalt bei Kapitalverbrechen, dann als Familien- und Zivilrichter am Amtsgericht. Danach wieder Staatsanwalt als Gruppenleiter und 2020 schließlich der Wechsel zum Staatsschutz-Senat am OLG. Seit Dezember 2022 leitet er die Pressestelle für Strafsachen.
Im AZ-Gespräch bezieht der erfahrene Jurist Stellung zur Kritik am Rechtsstaat, wie sie unter anderem der Buchautor Ronen Steinke ("Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich") äußert.
AZ: Der Autor Ronen Steinke kritisiert die deutsche Justiz, spricht sogar von "neuer Klassenjustiz". Völlig überzogen oder ist da was dran?
LAURENT LAFLEUR: Den Begriff "Klassenjustiz" halte ich für falsch. Der Begriff würde ja bedeuten, dass für unterschiedliche Klassen unterschiedliches Recht gelten würde und/oder das Recht für unterschiedliche Klassen unterschiedlich angewendet würde. Beides ist schlicht und einfach unzutreffend.
Laurent Lafleur vom Oberlandesgericht München: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich"
Geld macht keinen Unterschied?
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das steht in Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 118 Bayerische Verfassung. Eine Verletzung dieses Grundsatzes wäre eine Verletzung unserer Verfassungen. Für den Bürgergeldempfänger gelten dieselben Gesetze wie für den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden eines Dax-Konzerns. Ich habe hier vielmehr den Eindruck, dass ein plakativer Begriff gewählt wurde, um möglichst viel öffentliche Aufmerksamkeit und Empörung hervorzurufen.
Aber wer Geld hat, kann strafmildernden Schadenersatz leisten, weniger Vermögende nicht.
Zur Realität in Deutschland gehört: Vermögende Menschen haben häufig mehr finanzielle Möglichkeiten in der Gestaltung ihres Lebens. Diese Personen werden – wir haben das gerade bei Andrea T. gesehen – eher in der Lage sein, einen durch eine Straftat entstandenen Schaden wiedergutzumachen. Das kann sich dann strafmildernd auswirken. Aber soll die Justiz von dieser Milderungsmöglichkeit, die zu sozialem Ausgleich motiviert, keinen Gebrauch mehr machen, weil nicht alle diese Chance haben? Soll das Opfer einer Körperverletzung, das von einem vermögenden Schläger verprügelt wurde, kein Schmerzensgeld mehr erhalten, weil andere Täter sich das nicht leisten können? Das hielte ich für falsch. In der strafmildernden Berücksichtigung eines Täter-Opfer-Ausgleichs liegt auch keine Ungleichbehandlung. Es wird nämlich nicht – das ist der Kern des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG – Gleiches ungleich behandelt.
Sprecher des OLG München: Ein Pflichtverteidiger ist nicht vom Geldbeutel des Betroffenen abhängig
Eine These der Kritiker: Wer kein Geld hat, kann sich keinen Anwalt leisten und muss sich – zumindest bei geringfügigen Delikten – als vollkommener Laie selber verteidigen. Wird das in Justizkreisen als Problem wahrgenommen?
Der deutsche Gesetzgeber hat sich bewusst für ein System entschieden, bei dem die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht vom Geldbeutel des Betroffenen abhängig ist, sondern von dessen Fähigkeit, sich zu verteidigen und von der Bedeutung und Komplexität des Tatvorwurfs. Wann immer es kniffelig wird, hat der Beschuldigte einen Anspruch auf Beiordnung eines Verteidigers. Grob zusammengefasst bleiben außerhalb der notwendigen Verteidigung nur Fälle der Bagatell- und Kleinkriminalität. Hier sieht es der Gesetzgeber als nicht erforderlich an, von Gesetzes wegen einen Verteidiger zu stellen.
Also muss sich der Angeklagte in Fällen der Kleinkriminalität selber verteidigen? Ist das fair?
In diesen Fällen werden sich Gericht und Staatsanwaltschaft – das kann ich aus eigener Erfahrung berichten – besonders bemühen, dem Angeklagten den Verfahrensablauf zu erläutern.
Braucht es nicht doch trotzdem einen Verteidiger?
Ob die Kosten für einen Pflichtverteidiger bei Bagatell- und Kleinkriminalität in einem angemessenen Verhältnis zu der für den Fall einer Verurteilung zu erwartenden (Geld-) Strafe stünden, halte ich jedenfalls für diskussionswürdig. Denn auch die Kosten des Pflichtverteidigers werden am Ende nach geltendem Recht vom Verurteilten getragen. Das entspricht dem Verursacherprinzip.
Korrelation nicht mit Kausalität verwechseln
Eine weitere These der Kritiker: Wer professionelle Hilfe in Anspruch nehmen kann, hat größere Chancen auf Freispruch.
Hierzu habe ich selbst kein Zahlenmaterial. Ich warne aber jedenfalls vor der Herstellung von zu einfachen Kausalitätsbeziehungen. Möglicherweise nehmen sich ja Unschuldige auch eher einen Verteidiger als Schuldige. Korrelation, wenn diese überhaupt festgestellt wird, darf nicht mit Kausalität verwechselt werden.
Wer kein Geld hat, kann oft auch nicht Geldstrafen (zum Beispiel fürs Schwarzfahren) bedienen und wandert deshalb in Haft. Gerecht?
Mit dem Befund von Steinke bin ich einverstanden: Der Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen hat unbestritten sozialschädliche Nebenwirkungen. Die Betroffenen werden aus ihrem Leben herausgerissen, bekommen möglicherweise zusätzliche Probleme mit ihrem Vermieter, ihren Familien oder ihrem Arbeitgeber.
Welche anderen Strafen könnten alternativ ausgesprochen werden?
Bayern setzt sich seit langem dafür ein, dass Ersatzfreiheitsstrafen möglichst nicht vollstreckt werden müssen: Die bayerische Justiz räumt seit mehr als 30 Jahren grundsätzlich jeder Verurteilten und jedem Verurteilten bei uneinbringlichen Geldstrafen die Möglichkeit ein, die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch die Ableistung von gemeinnütziger Arbeit abzuwenden.
Wie funktioniert das?
Vor dem Hintergrund damals steigender uneinbringlicher Geldstrafen wurde im Jahr 2005 das Projekt "Schwitzen statt Sitzen" vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz ins Leben gerufen. In diesem Programm wird durch die Einschaltung von Vermittlungsstellen externer gemeinnütziger Träger und deren enge Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften die Vermittlung von Verurteilten in anrechenbare gemeinnützige Arbeit gefördert.
Programm: "Schwitzen statt Sitzen und Geldverwaltung"
Was geschieht mit Verurteilten, die weder Geld für die Strafe haben, noch aus psychischen oder physischen Gründen in der Lage sind, gemeinnützige Arbeit zu leisten?
Ab 2018 wurde das bisherige Programm "Schwitzen statt Sitzen" zu dem erweiterten Programm "Schwitzen statt Sitzen und Geldverwaltung" weiterentwickelt. In diesem erweiterten Programm wird zusätzlich die Möglichkeit geschaffen, dass die Vermittlungsstellen den Verurteilten bei der Leistung von Ratenzahlungen unterstützen. Die Teilnahme an dem Modell ist für die verurteilte Person freiwillig, das heißt, es besteht kein Zwang, Sozialleistungsansprüche abzutreten.
Was haben die Programme gebracht?
Durch die beiden Projekte konnten in den beiden Jahren 2021 und 2022 etwa 90.000 Hafttage vermieden werden.
Warum dann nicht gleich die Ersatzfreiheitsstrafe ganz abschaffen?
Die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe hielte ich für einen Fehler. Denn dann bleibt gar kein Anreiz mehr, die Geldstrafe zu begleichen. Das ist der Punkt, an dem viele Kritiker der Ersatzfreiheitsstrafe leider keinen vernünftigen und praktikablen Vorschlag machen. Die beste Ersatzfreiheitsstrafe ist dabei diejenige, die erst gar nicht vollstreckt werden muss, sondern durch ihre schiere Existenz bereits zur Begleichung der Geldstrafe anhält. Sie ist aber ein erforderliches Damoklesschwert.
"Der Strafbefehl ist in vielen Strafverfahren ein hervorragendes Mittel"
Kritik erntet auch der Strafbefehl, der quasi auf dem Büroweg ohne Verhandlung zu einer Strafe kommt. Teilen Sie die?
Nein. Der Strafbefehl ist in vielen Strafverfahren ein hervorragendes Mittel. Er schont die Ressourcen der Justiz und ermöglicht die rasche und kostengünstige Erledigung eines Strafverfahrens, was auch dem Beschuldigten nützt. Der Strafbefehl kommt vor allem in einfach gelagerten Fällen und nur bei vergleichsweise geringfügigen Straftaten zur Anwendung. Es darf maximal ein Jahr auf Bewährung als Strafe ausgesprochen werden. Und dies auch nur, wenn ein Verteidiger eingeschaltet wurde.
Warum also die Kritik?
Die Kritik rührt wohl daher, dass es auch Empfänger von Strafbefehlen geben mag, die ihre Post nicht öffnen, so Fristen zum Einspruch verpassen und dann anschließend von der Vollstreckung von Geldstrafen bis hin zu Ersatzfreiheitsstrafen überrascht werden. Aber deswegen ein System abzuschaffen, das Hunderttausenden hilft, halte ich für abwegig.
Der Richterbund fordert den Straftatbestand Schwarzfahren zu streichen, um eine Überlastung der Gerichte zu vermeiden. Gute Idee?
Notorische Schwarzfahrer sollen nach Auffassung des Bayerischen Justizministeriums weiter angemessen sanktioniert werden können. Die durch das Schwarzfahren entstehenden Einbußen werden regelmäßig in den Fahrpreis einkalkuliert. Ehrliche Nutzerinnen und Nutzer mit gültigem Fahrschein sollen nicht für das eigennützige Verhalten einzelner Schwarzfahrer zahlen. Das wäre nicht nachvollziehbar. Aus Sicht des bayerischen Justizministeriums ist zum Beispiel eine Abstufung zwischen Ordnungswidrigkeit und – etwa in Wiederholungsfällen – einem Straftatbestand denkbar.
Was ist Ihr Fazit nach 17 Jahren Justiz?
In diesen 17 Jahren habe ich erlebt, dass die Justiz jeden Tag hart für die Verteidigung des Rechtsstaats arbeitet. Dass Menschen aufgrund ihres Kontostandes unterschiedlich behandelt werden, habe ich dagegen nicht erlebt.
Also ist insgesamt eigentlich alles gut?
Die Justiz macht Fehler, ja, aber es gibt Korrekturmechanismen. Wir haben die Berufung, die Revision, die Wiederaufnahme eines Verfahrens. Mit der nötigen personellen und technischen Ausrüstung wird die Justiz ihrer Aufgabe auch in der Zukunft gerecht werden.