NS-Geschichte des Flughafen Riem: "Am Ende stimmte Hitler zu"

München - Der Historiker Mathias Irlinger arbeitet in der Dokumentation Obersalzberg. Im Interview mit der AZ spricht er über den Flughafen Riem und seine Geschichte, die Bedeutung der Luftfahrt für die Nazis, die Rolle Hitlers - und die Frage, was die Stadt heute mit dem Areal tun sollte - und was nicht.
AZ: Herr Irlinger, der Flughafen am Oberwiesenfeld scheint zeitgenössisch nicht besonders beliebt gewesen zu sein. Vom "primitivsten Flughafen" des Landes war die Rede, von "trostlosem Terrain". Warum?
Mathias IrlingerMATHIAS IRLINGER: Es gab nie den Plan, dort einen großen Flughafen zu bauen. Deshalb blieb es ein Sammelsurium auf einer riesigen Fläche - ein Mischmasch, das vielen nicht gefallen hat.
Wie sah das aus?
Es war eigentlich ein Exerzierplatz für das Militär, der dann mehr und mehr für den Flugverkehr genutzt wurde. Zunächst landeten hier vereinzelt Flugzeuge, ab 1919 auch Linienflüge. Erst nach und nach baute die Stadt eine Maschinen- und eine Empfangshalle. Zudem testete BMW Flugmotoren, Sport-Flieger gingen ihrem Hobby nach - und das alles neben den exerzierenden Truppen.
Flughafen Oberwiesenfeld: Fliegerei als Sport getarnt
Der drittgrößte deutsche Verkehrsflughafen war das Oberwiesenfeld schließlich. Aber hier wurde auch der Versailler Vertrag umgangen, schreiben Sie. Wie ist das gemeint?
Es gibt im Versailler Vertrag sehr restriktive Vorgaben für das Flugwesen, um die militärische Stärke des Deutschen Reiches zu beschränken. Indem die Fliegerei als Sport getarnt wurde, wurden die Bestimmungen umgangen.
Und findet insbesondere auf dem Oberwiesenfeld statt?
Ja, das ist der zentrale Ort dafür in München. Hier wurde das Flugwesen als "nationale" Aufgabe gefördert. Dies rief auch sehr früh die NSDAP im Stadtrat auf den Plan. Sie trat für die Förderung von Flugshows ein, wollte den Flughafen noch weiter ausbauen - und organisierte auch selbst Veranstaltungen.

Welche Funktion hatte die Begeisterung der Jugend damals für die Luftfahrt für die Nazis?
Europaweit war man sich nach dem Ersten Weltkrieg klar, dass bei kommenden Kriegen das Flugzeug eine zentrale Rolle spielen würde. Die Nationalsozialisten in Deutschland, die einen Krieg gezielt angesteuert haben, haben Wert darauf gelegt, Jugendliche für die Luftfahrt zu begeistern. Segelflug und Modellbau spielte da eine Rolle, aber auch Großveranstaltungen. Das Ziel war, künftig viele Kampfpiloten zu haben.
"Der 'Führerwille' war fast allen wie ein Gesetz"
Sie beschreiben den neuen, großen Flughafen in Riem als einen, der zum Selbstverständnis der Nazis passt. Aber es gibt auch Quellen, die sagen, Hitler sei gegen die Verlegung gewesen. Wie passt das zusammen?
1936 fiel die Entscheidung, einen neuen Flughafen zu bauen, anstatt weiter in das Oberwiesenfeld zu investieren. Von Anfang an war Hitler wie bei vielen Fragen in der Stadt München eine Art graue Eminenz. Er hatte ja selbst eine Wohnung in München, war viel hier. Hitler interessierte sich sogar für Detailfragen und glaubte, sich überall einmischen zu müssen. Die Stadtführung wiederum folgte ihm meist aufs Wort - selbst wenn sich Hitler widersprüchlich und realitätsfremd äußerte.
Und aus dem Hintergrund war er gegen den Umzug?
Sowohl die Münchner Politiker, als auch andere Beteiligte am Flughafenneubau versuchten Hitler mehrmals auf die Flughafenfrage anzusprechen, um seine Haltung zu beeinflussen. Sie hofften jeweils, eine Aussage in ihrem Sinne zu bekommen. Denn der "Führerwille" war fast allen wie ein Gesetz. Während die Stadt schon vom neuen Flughafen träumte, kam plötzlich das Gerücht auf, dass Hitler keine Verlegung wünschte. Die Stadtpolitiker witterten sofort Verrat. In der Folge kam es zum Bruch mit Hermann Esser, einem der "Alten Kämpfer", dem die Stadtführung unterstellte, bei Hitler gegen das Flughafenprojekt intrigiert zu haben.

Was soll sein Argument gewesen sein?
Das Oberwiesenfeld war 1931 ausgebaut worden und somit bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten neu ausgestattet. Hitler sah deshalb zunächst nicht ein, warum es einen Flughafen weit draußen in Riem, viel weiter weg vom Stadtzentrum, geben soll.
Wegen Riem: "Scharmützel von Stadt und Reich"
Aber er schwenkt um?
Ja, er segnet den Umzug final ab. Die Münchner Stadtführung schickte den Architekten extra zu ihm zum Obersalzberg, um die Baupläne für Riem vorzustellen und somit endgültig seine Zustimmung zu erhalten.
Was dürfte ihn letztlich überzeugt haben?
Auch Hitler stand voll hinter der Förderung der Luftfahrt aus militärischen Gründen. Nach 1933 wurden viele neue Flughäfen gebaut, etwa auch Tempelhof in Berlin. Da passt das verbaute Oberwiesenfeld nicht so recht zum Selbstverständnis der "Hauptstadt der Bewegung", die ja - mindestens - die zweitwichtigste deutsche Stadt sein wollte.
Streit um Riem gibt es trotzdem. Warum?
Die Stadt wollte selbst kein Geld investieren, den Flughafen sollte das Reich bezahlen. Gleichzeitig forderte sie das Größte und Modernste. Deshalb kommt es zu etlichen Scharmützeln.
Tribünen für Luftfahrt-Events
Riem wird zu einem "Stadion der Luftfahrt". Warum baut man solch gigantische Tribünen?
Wenn man heute an Flughäfen denkt, denkt man an Funktionsgebäude. Doch in Riem plante man damals Tribünen für bis zu 100.000 Menschen. Das hing mit der Inszenierung der Luftfahrt zusammen. Es ging nicht um die zivile Luftfahrt. 1938 bestiegen überhaupt nur 0,5 Prozent der Deutschen ein Linienflugzeug. Im Vordergrund stand die Begeisterung der Massen für die Luftfahrt - um den Aufbau einer neuen Luftwaffe ab 1935 vor allem bei Jugendlichen populär zu machen.
Finden solche riesigen Events dann tatsächlich statt?
Am Oberwiesenfeld gab es sie mit bis zu 60.000 Menschen, später in der NS-Zeit dann nicht mehr.
Warum?
Der Zweite Weltkrieg begann fast zeitgleich mit der geplanten Fertigstellung des Flughafens. Alle vorbereiteten Großveranstaltungen und die Einweihungsfeier wurden abgesagt.
Riem wird dann doch zu einem klassischen Militärflughafen?
Der Flugverkehr wurde im Oktober 1939 vom Oberwiesenfeld nach Riem verlegt. Es gab aber nur noch zwei Linien, eine nach Berlin und eine über Venedig nach Rom. Die Hauptfunktion war sofort militärisch.
Und die Tribünen?
Die wurden eigentlich erst nach 1945 genutzt. Dann gab es Flugevents, aber auch Motorsport-Rennen, später, nachdem der Flughafen 1992 geschlossen wurde, auch große Konzerte.
Hat Nebel in Riem das Elser-Attentat verhindert?
Sie sagten, zu Kriegsbeginn war der Flughafen noch nicht ganz fertig. Welchen Einfluss hatte der Krieg auf das Projekt?
Am Flughafen wurde nach Kriegsbeginn weitergebaut. Dafür wurden auch Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge eingesetzt. In Riem war ein Außenlager des KZ Dachau.
Sie stellen einen Zusammenhang her zum gescheiterten Attentat im Bürgerbräukeller.
Kurz nach Eröffnung des Flughafens fand der Jahrestag des Hitler-Putsches von 1923 statt. Dazu erwartete man im November 1939 erstmals die große NS-Prominenz am Flughafen. Joseph Goebbels etwa landete auch hier.
Und Hitler?
Der wollte eigentlich am Tag nach der Veranstaltung von dort abfliegen, nahm aber dann doch einen Zug am Abend. Deshalb verließ er den Bürgerbräukeller früher als geplant und entging so knapp dem Attentat. Warum er den Zug nahm, ist bis heute nicht endgültig geklärt.
Aber?
Aber eine Erklärung ist, dass in Riem am nächsten Tag Nebel erwartet wurde. Und er deshalb nicht starten hätte können.
"Es muss nicht ein Museum her - es geht auch ein Café"
Trifft der Luftkrieg den Flughafen?
Ja, bei einem Angriff am 9. April 1945 starben 41 Menschen, in der Mehrzahl Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Auch der letzte Luftangriff auf München am 26. April 1945 hatte den Flughafen als Ziel.
Jetzt soll ein Kultur-Café einziehen. Aus Ihrer Historiker-Sicht: eine würdige Nutzung - oder müsste man nicht einen expliziten Erinnerungsort schaffen?
Riem ist ja nicht nur für die NS-Geschichte, sondern auch für die Nachkriegsgeschichte ein wichtiger Ort. Hier spiegelt sich die Stadtgeschichte mit positiven wie negativen Facetten wider. Ich finde, es muss nicht zwingend ein Museum sein. Aber die historische Dimension sollte gewürdigt werden - das kann auch in einem Stadtteil-Café sein.
Und was soll mit den Tribünen passieren?
Das ist ein schwieriger Fall, weil der Erhalt sehr teuer ist. Als Historiker stellt man sich immer wieder die Frage, wie viel Geld in NS-Architektur investiert werden soll. Ich würde in diesem Fall sagen: Das ist ein spannender Ort mit viel Geschichte. Zumindest ein Teil der Tribünen sollte erhalten bleiben - weil die Architektur viel zu erzählen hat.