NS-Dokuzentrum: Späte Erinnerung

München - Es ist schon kurios: Was viel zu lange währt, findet nun sogar einen symbolträchtigen Abschluss. Am heutigen Donnerstag beginnt um 16 Uhr der Festakt zur Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums – genau vor 70 Jahren, am 30. April 1945, zogen die Amerikaner am Spätnachmittag in München ein und setzten dem braunen Spuk ein Ende.
Sicher, vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren hätte sich diese Dramaturgie sehr viel besser gemacht, für die Stadt geradezu peinlich war der schier endlose Prozess bis zum Bau dieses Lern- und Erinnerungszentrums. Viermal wurde die Eröffnung des 28,2-Millionen-Projekts verschoben, zwischendurch die Gründungsdirektion ausgewechselt. Doch nun überwiegt eine seltsame Melange aus Genugtuung, Zufriedenheit und Erleichterung.
„Eine gute, wichtige Sache kommt nie zu spät“, kommentierte der inzwischen 95-jährige Holocaust-Überlebende Max Mannheimer das Zentrum, das exakt dort errichtet wurde, wo das im Krieg zerstörte „Braune Haus“ stand, die Zentrale der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.
Über den neutralen, in Unschuldsweiß gehaltenen Kubus der Berliner Architekten Bettina Georg, Tobias Scheel und Simon Wetzel kann man sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein, auch über die Räumlichkeiten, die einen Ausstellungsmacher zuweilen vor kaum lösbare Probleme stellen. Doch Winfried Nerdinger, dem langjährigen Direktor des Architekturmuseums und Garanten für erhellende Über- und Einblicke in die Welt der Baukunst, ist an der Brienner Straße 34 Außerordentliches gelungen. Und zwar insofern, als er gerettet hat, was zu retten war.
Auf vier Stockwerken wird die Geschichte des Nationalsozialismus in München aufgefächert und verdeutlicht, weshalb er gerade hier auf so fruchtbaren Boden stieß. Von der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs über die rapide Ausbreitung und Machtübernahme, Gleichschaltung und Ausgrenzung, den Zweiten Weltkrieg bis hin zur Gegenwart.
Von oben schraubt sich dieses dunkelste Kapitel der Stadt nach unten in die erste Etage, wo selbst interessierte Medienkonsumenten überrascht sein dürften, wie hoch die Zahl rassistisch motivierter Verbrechen und wie aktiv die rechte Szene tatsächlich ist.
Gewollte Sichtachsen und großzügige Ausblicke
Nerdinger und sein Team arbeiten mit starken Leitbildern, jede der insgesamt 33 Stationen, gestaltet mit großformatigen LED-Tafeln, ist so bereits optisch schnell zu umreißen. Kurze, präzise Texte in Deutsch und Englisch führen zum jeweiligen Thema – das wäre die vertikale Ebene, die in anderthalb Stunden einen durchaus fundierten Überblick gibt und eine Diskussionsgrundlage für Gruppen wie Schulklassen liefert. Dazu kommen eine zweite und dritte vertiefende Ebene mit detaillierteren Informationen, Bildfolgen und Medienstationen.
Man hat sich wohltuend beschränkt, die Schau wirkt in keinem Abschnitt gedrängt oder überfrachtet, wie das bei historischen Vermittlungen gerne der Fall ist. Im Gegenteil. Die Besucher haben Platz, umherzugehen und zugleich einen Blick nach draußen zu werfen – das gehört zum Grundkonzept des Zentrums. An vielen Stationen korrespondiert das innen Aufbereitete mit dem, was vor dem Bau zu sehen ist.
Beim Thema des Marschs auf die Feldherrnhalle etwa schaut man auf das inzwischen wieder freigelegte Fundament eines der beiden Ehrentempel. Dort wurden die 1923 beim Putsch ums Leben gekommenen „Blutzeugen der Bewegung“ 1935 in bronzenen Sarkophagen beigesetzt und geradezu kultisch wie Märtyrer verehrt.
Vor allem solche Bezüge unterstreichen, dass das Dokumentationszentrum genau hier, mitten in der noblen Maxvorstadt am richtigen Ort ist. Hier saß die NS-Zentrale, hier wurden die Strippen gezogen, hier hielten 6000 Menschen einen unheilvollen Apparat mit perfider Perfektion am Laufen. Und hier hat man den Königsplatz im Visier, den Architekt Paul Ludwig Troost für Aufmärsche und Machdemonstrationen mit „ewigem“ Granit aus allen Teilen des Deutschen Reiches pflastern ließ.
Die gewollten Sichtachsen und die großzügigen Ausblicke auf die Umgebung haben allerdings auch ihre Tücken. Der berühmte Schrank vor dem Fenster ließ sich nicht immer vermeiden, in diesem Fall sind es Informationswände im vierten und mit Filmprojektionen bespielte Leinwände vor der etagenübergreifenden Fensterfläche im dritten und zweiten Obergeschoss. Das ist ein innenarchitektonisches No-Go.
Auch in den relativ schmalen Durchgängen musste das Ausstellungsteam kräftig jonglieren, wobei eine dieser Problemzonen den vermittelten Inhalt in sinnbildhafter Weise widerspiegelt: Etwa wenn sich auf dem Weg zur Machtergreifung entschiedene Gegner der NS-Bewegung – der Schriftsteller Thomas Mann und die Sozialdemokratin Toni Pfülf, der spätere Münchner Bürgermeister Thomas Wimmer oder die Frauenrechtlerin Lida Gustava Heymann – mit ihrer Vita auf Stelen in den Weg stellen. Ein Weg, der dann doch allzu leicht zu passieren ist, am Ende blickt man auf ein Foto mit der Hakenkreuzfahne am Münchner Rathaus, aufgenommen am 9. März 1933. Gleich daneben sind die Baracken des KZs Dachau abgebildet, das bereits 13 Tage später eingerichtet war.
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Tatsächlich findet man sich leicht zurecht im neuen Dokumentationszentrum, auf sämtlichen Etagen herrscht Übersichtlichkeit, auch das mit hellem Eichenholz ausgekleidete Souterrain mit Vortragsraum, Bibliothek und Lernforum zur Vertiefung der Ausstellung ist zurückhaltend und klar strukturiert. Überhaupt drängt sich dieser Bau selten auf, sondern bereitet der NS-Geschichte ein schlichtes, bewusst unspektakuläres Podest. Diese Erinnerung braucht keine Gimmicks und künstlich aufgepeppte Szenarien, sie ist Drama genug.
Dafür fällt der von Lamellenfenstern durchbrochene weiße Würfel schon von Weitem ins Auge. Ein schwebender Fremdkörper ist er im Ensemble aus Leo von Klenzes antikisierenden Königsplatzbauten und der donnernden Propaganda-Architektur des ehemaligen Führerbaus sowie dessen Pendant, der NSDAP-Verwaltung.
Monochromer Sichtbeton steht schwerem, verwitterten Naturstein gegenüber. Das lange vermiedene Dokuzentrum darf sich nicht einreihen ins historische Gefüge und soll sich schon gar nicht wegducken. Es ist jedoch allzu neutral geraten in seiner Aussage – und könnte so ziemlich alles beherbergen. Von der chicen Verwaltung einer Versicherung bis zur cleanen Klinik für plastische Chirurgie. Was auch in der Natur der Aufgabe liegt: Wer will hier schon ein Gebäude, das selbst zur Demonstration wird und womöglich falsche Interpretationen herausfordert?
Unverzeihlich sind dagegen die räumlichen Voraussetzungen für eine Ausstellung, auf die nicht nur München gewartet hat. Eine Ausstellung, aus der man allerdings eine Menge mitnimmt: eindringliche Bilder und erschreckende Zusammenhänge. Und am Ende bestürzt ist: über dieses schöne, gemütliche München, das die braune Soße aufgesogen hat, wie ein unfassbar gieriger Schwamm.
Übrigens: Das NS-Dokuzentum kann vom 1. Mai bis 31. Juli bei freiem Eintritt besucht werden – Dienstag bis Sonntag von 10 bis 19 Uhr.