Nothilfe in der Nachkriegszeit: 70 Jahre Amipackerl

Kaffee, Kakao, Corned Beef: 1946 erreichen die ersten Care-Pakete Deutschland. Eine Münchnerin erinnert sich.
Von Natalie Kettinger |
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Care

An den Geruch von Schweinsbraten und Weihrauch erinnert sich Marianne Beckmann (69) auch nach Jahrzehnten noch genau. An diese eigentümliche Melange, die durchs Pfarrhaus von St. Hubertus waberte, wenn der „Herr Geistliche Rat“ die Tür öffnete und ihr eins der „Amipackerl“ überreichte.

Heimlichkeit war dabei das oberste Gebot, weil der stolze Vater keine Almosen annehmen wollte: „Wir lassen uns nichts schenken, wir sind doch keine Bettler.“ Annemaries Mutter nickte lächelnd – und schickte ihre Mädchen dann doch zum Pfarrer, wenn der siebenköpfigen Familie im Nachkriegs-München die Lebensmittel ausgingen.

Fünf "Ten in One"-Packungen in einem Care-Paket

70 Jahre ist es heuer her, dass die ersten „Care-Pakete“ aus den USA in Deutschland eintrafen. Am 15. Juli 1946 brachte sie ein Schiff nach Bremerhaven, von dort aus wurden sie in der amerikanischen Zone verteilt.

22 Hilfsorganisationen hatten sich zusammengeschlossen, 2,8 Millionen überschüssige Rationspakte der US-Streitkräfte aufgekauft. Die sogenannten „Ten in One“-Pakete enthielten Lebensmittelrationen für zehn Tage: Dosenfleisch, Trockennahrung, Kaffee, Kakao und Milchpulver, dazu Zigaretten, Kaugummi und Seife.

Ein Care-Paket bestand in der Anfangszeit aus fünf „Ten in One“-Packungen. Für zunächst zehn und dann 15 US-Dollar konnten die Amerikaner sie kaufen – und als Spende ins verwüstete Europa schicken. Von Unbekannt an Unbekannt.

Für manche waren die Pakete lebenswichtig

„Für uns waren diese Pakete jedes Mal ein kleines Wunder“, sagt Marianne Beckmann. „Wir haben sie gedreht und gewendet und dabei so viel Dankbarkeit verspürt.“ Corned Beef sei oft darin gewesen, wunderbarer Käse und Trockenmilch-Produkte, aus denen die Mutter dann Griesschnitten, Pfannkuchen oder Rohrnudeln zauberte – „wenn es gerade Eier gab“.

Marianne Beckmann mit ihrer Schwester Bibi (im Kinderwagen) und ihren Großeltern vor dem Haus Kazmairstr. 79, in dem sie aufgewachsen ist. Foto: privat

Für manche im Viertel seien die Care-Pakete überlebenswichtig gewesen, erzählt Marianne Beckmann, die im Westend aufgewachsen ist. „In unserer Nachbarschaft gab es eine Witwe mit neun Kindern. Ohne Care-Pakete währen ihre Kinder sehr oft hungrig ins Bett gegangen.“

Als die Restbestände der US-Armee aufgebraucht waren, begann Care eigene Pakete zu packen – ohne Zigaretten und vorgekochte Nahrung.

Im Frühjahr 1947 bestand das Standard-Paket aus folgenden Dingen:

  • 1 Pfund Rindfleisch
  • 1 Pfund Leberkäs
  • 1 Pfund Corned Beef
  • 2 Pfund Backfett
  • 2 Pfund Zucker
  • 1 Pfund gedörrte Aprikosen
  • 1 Pfund Rosinen
  • 1 Pfund Mehl
  • 1 Pfund Schokolade
  • 1 Pfund Kakao
  • 2 Pfund Milchpulver
  • 8 Unzen Eipulver
  • 1 Pfund Kaffee
  • 1 Unze Hefe
  • 2 Stück Seife

Je nach Zielland variierte der Inhalt: Während die Engländer Bohnen und Speck geschickt bekamen, freuten sich die Iren über Dörrfrüchte und Säfte. In den Care-Paketen für Italien und Griechenland steckten außerdem fünf Pfund Spaghetti.

Heute lebt die 69-Jährige in der Nähe von Regensburg. Foto: privat

Als Care 1960 seine Arbeit in Deutschland einstellte, hatten die Amerikaner mehr als 9 Millionen Pakete über die Hilfsorganisation in die Bundesrepublik versandt. Insgesamt brachte Care zwischen 1946 und 1962 fast 100 Millionen „Amipackerl“ ins zerstörte Europa.

„Erst als Erwachsene, als ich mich näher mit der Nachkriegsgeschichte befasst habe, ist mir klargeworden, wo diese Pakete eigentlich hergekommen sind“, gesteht Annemarie Beckmann. Als Kind sei sie einfach nur glücklich über den Inhalt gewesen – „und dafür haben wir uns beim lieben Gott bedankt“.


Marianne Beckmann hat ein Buch über ihre Jugend im München der Nachkriegszeit geschrieben: „Glei hinter der Bavaria“ ist im Eigenverlag erschienen und kann über folgende E-Mail-Adresse bestellt werden: beckmann.marianne@gmx.de

Die Feier

An diesem Samstag feiert die Organisation Care auf dem Rindermarkt ihren 70. Geburtstag. Aus dem Programm:

  • Los geht’s um 11 Uhr mit Liedern aus der Nachkriegszeit, interpretiert von „The Funny Valentines“.
  • Um 11.40 Uhr referiert Andreas Heusler vom Münchner Stadtarchiv über „Leben in einer zerbombten Stadt – Zur Alltagssituation nach dem Zweiten Weltkrieg in München“.
  • Um 11.50 Uhr erzählen Zeitzeugen und Empfänger von Care-Paketen vom Alltag im zerstörten München nach Kriegsende. Mit dabei ist Marianne Beckmann.
  • Ab 12.20 Uhr geht es darum, wie Care heute Menschen in Not hilft. Anschließend werden langjährige Unterstützer der Organisation geehrt.
  • Ab 12.40 Uhr ist der München-Marathon Thema. Ende der Veranstaltung ist um 15 Uhr.

Das macht Care heute

Die amerikanische Hilfsorganisation Care ist weiterhin aktiv. Allerdings hat sie ihre Aktivitäten den Erfordernissen der Gegenwart – vor allem in der Not- und Entwicklungshilfe – angepasst: In 90 Ländern leisten 14 eigenständige Care-Organisationen heute Hilfe zur Selbsthilfe für Menschen in Not. Die Mitarbeiter bilden Mediziner und Lehrer aus, unterstützen Landwirte und Trinkwasser-Projekte. Auch Pakete gibt es noch – etwa zur Aufklärung über Ebola in Afrika (siehe Foto).

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