"Nicht stinken zu müssen, ist ein großes Ereignis"
München - Biss war 1993 die erste Straßenzeitschrift in Deutschland. Nach fünf Jahren wurden die ersten Verkäufer fest angestellt – heute sind es 52 angestellte und 50 freie. Der Biss-Vertriebschef und Streetworker Johannes Denninger hat mit der AZ gesprochen – über die Würde in Entscheidungen, den am besten angezogenen Biss-Verkäufer und das Vertrauen der Münchner Stadtgesellschaft.
AZ: Herr Denninger, wenn Sie einen Menschen betteln sehen: Geben Sie dem Geld?
JOHANNES DENNINGER: Nein.
Warum nicht?
Weil ich mich persönlich entschieden habe, keine Almosen zu geben. Aber daraus will ich keine Ideologie machen. Ich finde nur ganz wichtig, dass jemand, der Geld gibt, keine Bedingungen daran knüpft, also dann sagt: „Aber versaufen Sie es nicht“. Ich muss auch die Diskussion über die Bettelmafia nicht führen: Ich weiß aus unserer Arbeit, wie schwer und hart Betteln ist. Wenn dann Drecksäcke dahinterstehen, die die Leute zum Betteln zwingen, wissen Sie, wie schlimm es ist für die Leute, die da betteln.
Sie feiern gerade sehr groß den 25. Geburtstag von Biss und lassen unter anderem Verkäufer bei Führungen aus ihrem Leben erzählen. Warum muss man das immer noch tun?
Jemand, der die Situation nicht kennt, kann das nicht nachvollziehen: nicht über geschützte eigene vier Wände zu verfügen. Einer Willkür und fehlender Privatsphäre ausgesetzt zu sein, immer wieder konfrontiert zu werden von der Öffentlichkeit mit Blicken – oder Sprüchen, Tritten. Die Verkäufer erzählen, wie es ist, das ganze Leben in einen Koffer bringen zu müssen. Wie anstrengend es ist, wenn man keine Fahrkarte hat und von Stelle zu Stelle laufen muss, um Essen zu kriegen, einen Schlafplatz, zu duschen. Wie viel Energie man aufbringen muss jeden Tag, um zu überleben. Über diese Erzählungen kann man ein Gespür entwickeln dafür.
Sie erzählen sicher auch, wie Biss ihr Leben verändert hat.
Natürlich, das können sie ja am besten. Biss ist keine Allzweckwaffe, aber die Menschen, die bei uns arbeiten, haben eine Chance, den Kreis zu durchbrechen. Und sich irgendwann wieder entscheiden zu können: Möchte ich aufs Brot Wurst oder Käse? Trage ich heute ein rotes oder ein blaues Hemd? Nicht stinken zu müssen, weil man sein Hemd waschen kann. Das sind alles große Ereignisse. Das wollen wir vermitteln. Und dass man sich beim Kauf des Hefts am Projekt beteiligt und den Verkäufer unterstützt.
Kennen Sie alle Verkäufer und Verkäuferinnen mit Namen?
Ich kenne alle, die aktuell für uns verkaufen. Vor allem mit Nachnamen: Wir sind per Sie mit den meisten Verkäufern. Das ist eine Form der Höflichkeit. Mit manchen Verkäufern habe ich täglich Kontakt. Einer wird gerade fest angestellt und bekommt eine Wohnung, da ist viel zu besprechen. Mit manchen spreche ich nur einmal im halben Jahr, weil es gut läuft. Ich bin ja nicht deren Beichtvater. Auch wenn sie immer kommen können, wenn was ist.
Manche Verkäufer sind schon wahnsinnig lange dabei. Tibor Adamec zum Beispiel seit 20 Jahren. Wie geht es ihm?
Dem geht’s ausgezeichnet! Er war wieder unser bestangezogener Verkäufer beim Betriebsausflug zum Kloster Reutberg. Und er verkauft nicht so gut, weil er gut angezogen ist – sondern weil er diesen Job als einen Job sieht, der ihm Dinge ermöglicht, wie seine Wohnung, seine Kleidung. Dem geht’s mit seinen 80 Jahren so gut wie noch nie in seinem Leben. Und das kommt, weil wir nicht auf Almosen setzen, sondern den Menschen ermöglichen, eine Festanstellung zu bekommen und sich abzusichern.
Viele Menschen kaufen ja nicht nur die Straßenzeitung, sondern spenden auch.
Die Spendengelder nehmen die Verkäufer dann zum Beispiel für die Wohnungseinrichtung, um ihre Zähne rekonstruieren zu lassen oder Sprachkurse zu besuchen. Das ist alles der Stadtgesellschaft geschuldet, weil die einsteigt. Weil die nicht nur von außen zuschaut, sondern einzelne Menschen und das Projekt mitträgt.
Es gibt aber nicht nur Happy Ends, sondern auch. . . Scheitern? Kann man das sagen?
Natürlich. Scheitern ist immer möglich. Wir unterscheiden uns da nicht von einer normalen Firma: Wir setzen auf Leistung. Wir begleiten die aber sozialpädagogisch und mit allen Strukturen, die die Stadt hergibt. Das beste Beispiel: unser Entschuldungsprogramm. Die Verkäufer können sich strukturiert entschulden lassen – wir machen das aber nur ein Mal. Das sind ja erwachsene Menschen, wir können nicht immer die Hand draufhalten. Eigene Einnahmen sind für unsere Verkäufer aber der größte Schutz, nicht wieder zurückzufallen. Und wenn sie dann irgendwann wieder eine Wohnung haben und den Schlüssel ins eigene Schloss stecken können: Das ist ein wahnsinniges Gefühl für die!
Der Wohndruck in München steigt – merken Sie das auch?
Natürlich. Wir haben das große Glück, dass wir "Bürger in sozialen Schwierigkeiten" sind, also eine Straßenzeitschrift, keine Obdachlosenzeitschrift. Die Mehrzahl unserer Leute ist arm, manche sind krank, behindert, aber nicht zwingend obdachlos. Aber wir merken das, klar. Und seit dem Scheitern unseres großen Projekts Hotel (Biss wollte 2011 ein soziales Hotel im ehemaligen Frauengefängnis gründen, der Freistaat gab das Grundstück aber einem privaten Investor, der dort Luxuswohnungen baut; Anm. d. Red.) gehen wir in Richtung Wohnraumerwerb. Inzwischen haben wir fünf Wohnungen gekauft, die wir günstig vermieten an einen Verkäufer oder einen bedürftigen Münchner so dem Spekulationsmarkt entziehen. Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber wir wollen das tun. Und die Münchner trauen uns offenbar auch zu, mit Wohnraum seriös umzugehen: Wir bekommen inzwischen öfter Angebote für Wohnungen zu einem vertretbaren Preis von Menschen, die helfen möchten.
Haben Sie manchmal das Gefühl, Sie tun noch nicht genug?
Nee. Wenn man in diesen Zustand gerät, wird man hilflos. Auch Klagen und Jammern: Werden Sie von uns nie hören. Damit schiebt man es immer auf andere – auf den Staat, auf Söder. Das kann man machen, aber wir sagen: Wir schaffen stattdessen selbst Bedingungen, in denen wir Menschen in existenziellen Nöten helfen können dabei, dass sie wieder wählen können.
Wird München Biss noch weitere 25 Jahre brauchen?
Die Frage ist, ob es München gelingt, eine bessere Verteilung der Güter herzustellen. Wenn das nicht gelingt, wenn es noch ungerechter wird, wird es weiter Projekte geben müssen wie Biss. Und dafür spricht vieles.
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