Natascha Kohnen: SPD-Spitzenkandidatin über München, 1968 und Markus Söder

München - Natascha Kohnen ist Spitzenkandidatin einer derzeit eher bemitleidenswerten Partei, der SPD. Was weniger bekannt ist: Kohnen ist mitten in der Maxvorstadt aufgewachsen. Beim Stadtviertel-Spaziergang mit der AZ zeigt sie das Haus, in dem sie aufwuchs, erzählt von wilden Zeiten im Viertel - und erklärt, warum sie keinen Dialekt spricht.
AZ: Frau Kohnen, wie ist Ihr Gefühl: Gehört die Maxvorstadt zu Schwabing?
NATASCHA KOHNEN: Nein, für mich waren das schon als Kind zwei verschiedene Viertel. Hinterm Siegestor begann die Touristenmeile Leopoldstraße. Das war Schwabing.
Woran denken Sie, wenn Sie sich an die Maxvorstadt Ihrer Kindheit erinnern?
Zum Beispiel an den alten Schuster, den es an der Ecke Kaulbachstraße, Veterinärstraße gab. Das war wie beim Pumuckl, er war unser Meister Eder, wie er mit seiner Lederschürze da hinten saß und die Schuhe gemacht hat. Den gibt es nicht mehr. Und überhaupt hat es sich total verändert.
Erkennen Sie Ihre Maxvorstadt denn noch wieder?
Ja, schon. Ich kenne hier ja jeden Pflasterstein. Wenn es geregnet hat, sind wir immer quer durch die Uni gelaufen und dann zur Amalienpassage. So konnten wir fast trocken bis zur Grundschule in die Türkenstraße kommen. Von den Fassaden her ist die Veränderung gar nicht so groß. Was gleich auffällt, sind die anderen Läden. Coffee to go, die Bars - früher war ich hier immer bei Schreibwaren Werner.

Sie sind in der Kaulbachstraße am Englischen Garten aufgewachsen. Edel, edel.
Damals wohnten hier ganz normale Leute. Das war noch bezahlbar. Wir sind direkt, nachdem ich geboren wurde, in die Kaulbachstraße 26b gezogen. Dort gab es einen alten Turm. Immer, wenn ich den Schlüssel vergessen hatte, habe ich mich durch die Gitterstäbe gedrückt und bin dann übers Badfenster in die Wohnungen eingestiegen. Im Haus wohnten drei Familien, alles 68er.
Sie stammen auch aus einer 68er-Familie?
Aber hallo!
Natascha Kohnen: Gespielt an der Ruine der Staatskanzlei
Was sind alltägliche Erinnerungen, an denen Sie das 68er-Umfeld festmachen würden?
Es war halt die Zeit der Pluderhosen, der bunten Ketten. Bei den Straßenfesten auf der Türkenstraße war Ali Mitgutsch, es gab Improvisationstheater und Fingerfarben.
Standen Ihre Eltern hinter der Rebellion - oder haben sie auch damit gefremdelt?
Man hat das halt einfach gelebt. Mein Vater war Anwalt, der war da nicht so involviert. Aber politisch war er schon, bei uns wurde immer debattiert, wie das damals ohnehin in vielen Familien war. Es ging um Bildung, um Freiheit, es war super-lebendig. Hier um die Ecke war auch der antiautoritäre Kindergarten.
Da waren Sie als 68er-Kind dann bestimmt auch.
Nein, ich war im katholischen. Das war mir auch lieber. Die 68er hatten so viele Vorstellungen, was Kinder machen müssen, um sich auszuleben. Ich habe manchmal gedacht: Vielleicht habt ihr selbst mehr Bock, mit Fingerfarben zu malen, als wir. Gebt uns doch mal einen echten Pinsel und lasst mich in Ruhe. Es war schon eine wahnsinnig lustige Zeit.

Würden Sie sagen, dass die Revolte von 1968 München geprägt hat?
Ja, ich glaube, das war der große Freiheits-Durchbruch. Eltern von heute wären vollkommen irritiert, wenn sie wüssten, wie es damals zugegangen ist (lacht).
Zum Beispiel?
Zum Beispiel haben wir damals an der heutigen Staatskanzlei gespielt. Das war eine Ruine. Für uns war immer die Frage, wer sich traut, in dieses dunkle, gruselige Gebäude reinzuklettern.
Sie durften alles machen, was Sie wollten?
Nein. In den 70ern habe ich hier die Rockerzeit mitbekommen, die sind mit ihren Ketten in Richtung Monopteros durchgezogen. Den haben mir meine Eltern nur zum Rodeln im Winter erlaubt. Sonst war er verboten.
Das Monaco-Franze-München? - "Markus Söder kommt nicht von hier"
Warum?
Drogen. Da durften wir nicht hin. Aber die Trommeln vom Monopteros sind - wie die Blasmusik vom Chinaturm, wenn der Wind richtig stand - der Sound meiner Kindheit. Das habe ich abends im Kinderzimmer gehört. Am Milchhäusl habe ich das Radfahren gelernt.
Sie waren in der Türkenschule gleich hinter der Uni. Wie war es da?
Da waren alle Schichten, gar nicht nur Akademiker, auch die ersten Kinder mit Migrationshintergrund. Aber auch die Schule war geprägt von 68er-Eltern. Es war sehr basisdemokratisch, die Eltern wollten bei allem mitbestimmen, haben klar gesagt, dass kein Kind geschlagen werden soll.
Heute wirkt die Maxvorstadt weniger vielfältig, oder?
Von den Freunden meiner Eltern wohnt keiner mehr hier. Die Leute können es sich einfach nicht mehr leisten - höchstens, wenn sie damals, als das noch ging, Eigentum gekauft haben.
Wie war das bei Ihrer Familie?
Es war typisch. Anfang der 90er, als die alte Hausbesitzerin starb, hat die Erbengemeinschaft sehr klare Vorstellungen gehabt, wie viel Geld sie verdienen will. . .
Wenn es das Problem schon so lange gibt: Wundert es Sie manchmal, dass die Münchner nicht zu großen Demonstrationen auf die Straße ziehen wegen der steigenden Mieten?
Inzwischen stellt sich die Frage, ob die, die noch da sind, es sich einfach gut leisten können. Oder ob es vor allem Resignation ist, dass wenig demonstriert wird.
Frau Kohnen, warum sprechen Sie eigentlich kein Münchnerisch?
In der Schule wurde uns damals sehr deutlich gemacht, dass wir keinen Dialekt reden sollen. Heute ist das Gott sei dank nicht mehr so.
Markus Söder hat der AZ mal gesagt, der alte Münchner Charme gehe verloren, er vermisse das Monaco-Franze-München. Können Sie das nachvollziehen?
Er kommt ja überhaupt nicht von hier, kennt das Monaco-Franze-München höchstens aus dem Fernsehen.
Hat er trotzdem recht?
Ich finde schon, dass man sieht, dass München extrem teuer geworden ist. Das alte München gibt es noch, aber die Gentrifizierung ist wirklich heftig. Da muss man politisch gegensteuern - und da wäre Markus Söder jetzt ja eigentlich am Ruder.

Kann man da politisch überhaupt gegensteuern? Oder müsste Politik ehrlicherweise sagen: Wirklich stoppen werden wir die Preisspirale eh nicht.
Hans-Jochen Vogel hat ja schon in den 70ern den Bodenpreis thematisiert.
Aber?
Dann ist das Thema an den Rand gedrückt worden, man hat vielleicht auch nicht mit einer so heftigen Entwicklung gerechnet. Die Politik hat aber zum Beispiel auch versäumt, die Internet-Anbindung im ländlichen Raum so zu machen, dass Firmen auch dahin gehen. Und wenn Schulen schließen, gehen Familien eben auch in die Städte. Ich glaube, wenn man ländliche Regionen fördert, entlastet das auch München.
Sie haben noch Hoffnung?
Ich bin wild entschlossen.
Sie selbst sind auch raus aus der Stadt. Aufgewachsen am Englischen Garten, gelebt in Paris, jetzt Neubiberg. Wie wird man eigentlich von der Städterin zum überzeugten Landei?
Ich wollte hier eigentlich an der Uni studieren, habe meinen Platz dann aber in Regensburg bekommen. Dann waren es immer berufliche Bewegungen, die uns auch nach Paris geführt haben. Als wir zurück wollten, haben wir per Makler gesucht, das ging aus der Ferne ja gar nicht anders. Und dann haben wir eben etwas in Neubiberg gefunden, Was man sich übrigens so vorstellen muss, dass das Ortseingangsschild von München 30 Meter weiter in meiner Straße steht. Trotzdem hat Neubiberg natürlich eine eigene Identität.
Natascha Kohnen: Außen Landei - innen Stadtmensch
Wie würden Sie die beschreiben?
Wir sind kulturell sehr stark, die Gemeinde bietet unheimlich viel. So viel, dass die Waldperlacher - aus München! - zu uns kommen. Und: Man kennt sich gut, wenn man engagiert ist. Und das war ich zum Beispiel als Schulweghelferin.
Wann vermissen Sie die Maxvorstadt?
Im Innersten bin ich einfach Städterin. Bei meinen Kindern ist das übrigens nicht mehr so. Die können sich vorstellen, so richtig auf dem Land zu wohnen. Wenn ich hier in der Maxvorstadt bin, ist das für mich daheim.
Der beste Ort für ein spätes Bier im Viertel?
Für ein spätes nicht, aber ich sitze im Winter unheimlich gerne unten am Milchhäusl in der Gondel. Das ist cool, das mag ich. Ansonsten gehe ich immer noch gerne in die Türkenstraße zum Alten Simpl - oder in den Türkenhof zum Kickern.
Vermissen Sie an München das Raue anderer Großstädte?
Ich finde Berlin oder Paris schon schön. Aber wenn man von hier kommt, ist man irgendwie anders geprägt. München ist ruhiger, gemütlicher, liebevoller.
Wann merken Sie diesen Unterschied?
In Paris ist es zum Beispiel so, dass man einen Ober im Café erstmal anschnauzen muss, wenn etwas nicht funktioniert. Das finde ich schon kurios. Ich mag die Münchner Höflichkeit.