Nach Missbrauchsgutachten: Zahl der Kirchenaustritte explodiert

Die katholische Kirche scheint die Quittung zu bekommen für die Ergebnisse des Münchner Missbrauchsgutachtens: Städte melden einen Monat nach der Vorstellung einen Ansturm bei Kirchenaustritten. Ein Erzbischof will gegensteuern.
von  AZ/dpa
In München und anderen bayerischen Kommunen sind die Anfragen zum Kirchenaustritt seit Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens regelrecht explodiert. (Symbolbild)
In München und anderen bayerischen Kommunen sind die Anfragen zum Kirchenaustritt seit Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens regelrecht explodiert. (Symbolbild) © Rolf Vennenbernd/dpa

München - Das Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München und Freising schlägt nach wie vor Wellen - und viele Katholiken scheinen ihre Konsequenzen daraus zu ziehen. Denn die Zahl der Kirchenaustritte in bayerischen Städten ist nach der Vorstellung des Gutachtens vor einem Monat förmlich explodiert. Das hat eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter mehreren Städten im Freistaat ergeben.

Kirchenaustritte haben sich verdoppelt

In München verdoppelte sich die Zahl der Austritte, wie ein Sprecher des Kreisverwaltungsreferates (KVR) mitteilte: "In der ersten Januarhälfte, also vor dem Gutachten, hatten wir in München pro Arbeitstag in etwa 80 Kirchenaustritte. Seit dem 20. Januar, also seit dem Gutachten, sind es um die 150 bis 160 Kirchenaustritte pro Arbeitstag. Also etwa doppelt so viele."

Auch andere Städte in Bayern bestätigen den Trend, der sich in München so deutlich abzeichnet: Das Standesamt Nürnberg meldete zwischen dem Tag der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens am 20. Januar und dem 14. Februar 617 Kirchenaustritte, davon 381 aus der katholischen, 234 aus der evangelischen Kirche und zwei Sonstige. Vor zwei Jahren - im Vergleichsjahr 2020 - hatte das Standesamt in diesem Zeitraum nur 372 Austritte, davon 200 katholisch, 165 evangelisch und sieben Sonstige.

Behörden erwarten vorläufige Fortsetzung des Trends

Für die nächsten Wochen und Monate geht man in den bayerischen Kommunen davon aus, dass die Kirchenaustritte zunächst ungebremst weitergehen. "Die Nachfrage ist sicherlich dreimal so hoch wie Anfang des Jahres", sagte der Sprecher. Doch die sei nicht zu bewältigen: "Das Limit ist hier unsere Kapazitätsgrenze, vor allem beim Personal."

Und das obwohl das KVR in München die Öffnungszeiten verlängert und mehr Leute eingesetzt hat. "Trotz erweiterter Öffnungszeiten und Personalumschichtungen wird es wegen der sehr hohen Nachfrage voraussichtlich nicht möglich sein, alle Austrittswünsche zeitnah zu bedienen." Ob die Menschen aus der katholischen oder der evangelischen Kirche austreten, wird in München statistisch nicht erfasst.

Bamberger Erzbischof fordert umfassende Reformen

Rufe nach weitgehenden Reformern werden angesichts dieser Zahlen immer lauter. So hat sich Bambergs Erzbischof Ludwig Schick in einem Gastbeitrag in der "Fuldaer Zeitung" unter anderem für die Möglichkeit ausgesprochen, Frauen zu Diakoninnen weihen zu können, denn "für die Reform der Kirche ist ebenso wichtig, dass Frauen noch mehr Leitungsämter wahrnehmen - auch in pastoralen Diensten", so Schick. Der Vorschlag der Diakoninnen-Weihe müsse daher geprüft und umgesetzt werden.

Zur Missbrauchsdebatte schrieb er, zu viele Amtsträger hätten schuldhaft oder unachtsam, bewusst oder unbewusst, schreckliche Taten begangen, sie verschleiert oder deren Aufdeckung verhindert. "Klerikalismus, hierarchische Überhöhung, Klüngelbildung, Seilschaften und Machtmissbrauch sind Ursachen dafür", erklärt er.

Gutachter gehen von Hunderten Opfern aus - und einer großen Dunkelziffer 

Das am 20. Januar vorgestellte und vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) war zu dem Ergebnis gekommen, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt worden waren.

Die Gutachter gehen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern, zugleich aber von einer deutlich größeren Dunkelziffer aus. Sie erhoben schwere Vorwürfe unter anderem gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, dem sie vierfaches Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsfällen vorwerfen.

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