Nach Kopfschuss gelähmt: Weiterleben, immer weiter
Eduard S. ist das Opfer eines Verbrechens: Nachdem er einen Streit geschlichtet hat, schießt ein Mann ihm in den Kopf. Seither ist er halbseitig gelähmt. Warum er Hilfe braucht.
München - Es gibt Tage, an denen weiß Eduard S. gar nichts mehr. Nicht mal mehr den Namen des Täters. Des Mannes, der ihm das alles angetan hat. Und es gibt andere Tage, an denen holt ihn die Erinnerung in all ihrer Brutalität ein.
Trotzdem kann er nur ansatzweise erzählen, was ihm im Januar 1981 passiert ist. Weil er seither nicht mehr in der Lage ist, flüssig zu sprechen.
Der 59-Jährige sagt über sich selbst: „I bin a Wunder. Weil andere: Kopfschuss – dann tot.“ Dann lächelt er einen aus seinem Rollstuhl an. Ein Mann, dem eine Körperhälfte nicht mehr gehorcht. Dem ein Bein amputiert werden musste. Der auf einem Auge nichts mehr sieht. Aber dessen Lebenswille ungebrochen ist. „Mit Fleiß leb’ ich“, sagt er. „Mit Fleiß.“
Vor fast 32 Jahren ist Eduard S. das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Damals war er 28 Jahre alt. Ein junger Mann, der sich was vom Leben nahm. Der weit reiste. Gern feierte. Er hatte eine eigene Bar in der Thalkirchner Straße. Fotos aus dieser Zeit zeigen ihn als hünenhaften, kräftigen, langhaarigen Typen. Gerade war er Vater geworden. Seine Verlobte hatte ein Mädchen zur Welt gebracht. Der „Edi“, wie ihn seine Freunde nannten, kannte Gott und die Welt. Und auch die falschen Leute.
Die alten Prozessakten und Gutachten sind schon ganz vergilbt. Lange Jahre hat Eduard S. sie nicht mehr in den Händen gehalten. Sie lagen irgendwo im Keller und waren in Vergessenheit geraten. Jetzt, wo er sie wieder vor sich hat, ist er außer sich. Gedanken-Chaos. Die Worte wollen nicht so aus seinem Mund kommen, wie er es will. Stattdessen zeigt er die Stelle an seinem Kopf, an der die Kugel austrat.
Aus den Dokumenten geht hervor: Es passierte an einem Tag, an dem er zu Bekannten in den „Leierkasten“ fuhr. Die Männer trafen sich an der Bar, um zu zechen. Das Bordell war geschlossen. Unter ihnen war auch derjenige, der später mit der Waffe auf S. zielte. Der Täter Albert R. (Name geändert) arbeitete als „Wirtschafter“ in dem Betrieb. Sein Job war es, dort für Ordnung zu sorgen. Doch damals griff er nach einem Streit einen der Gäste an. Eduard S. ging dazwischen. Schlichtete.
Das war offenbar so seine Art. Zeugen haben ihn später als „keinesfalls streitlustig“, als „gemütlichen Typen“ beschrieben. Doch indem er sich einmischte, zog er die Wut des Angreifers auf sich. Weil er aber viel stärker war als der, konnte er ihn abwehren. Schließlich gelang es ihm, Albert R. zu beschwichtigen. Sie versöhnten sich. Zumindest schien es für Eduard S. so. Er blieb an der Bar. Was er nicht wusste: Der Wirtschafter hatte in der Zwischenzeit seine Freundin losgeschickt, um ihm von daheim seinen Revolver zu holen. Marke Colt.
In einem Urteil des Landgerichts heißt es später, Albert R. sei verärgert gewesen, dass er „moralisch und körperlich der Unterlegene war“. Mit dem Revolver wollte er sich Respekt verschaffen. Stunden nach dem Streit richtete er die Waffe plötzlich auf seinen Kontrahenten. Und drückte ab. Die Kugel drang durch Eduard S.s Oberlippe ein, jagte durch sein Hirn und trat am Schädeldach aus.
Albert R. ist wegen versuchten Totschlags zu achteinhalb Jahren verurteilt worden. Eduard S. bekam lebenslänglich – als Gefangener eines Körpers, der ihm nicht mehr folgt. Er verlor alles. Seine Gesundheit, seine Kneipe, seine Freunde, seine Familie. In seiner Sprache erzählt er davon so: „Geschossen – und nichts mehr. Gar nichts mehr.“ Am schlimmsten trifft ihn die Einsamkeit. Er ist „alloans“, sagt er. „Spezln hab i nimmer.“ Sein ein und alles sind heute zwei scheue Katzen, die bei ihm leben.
Seit vielen Jahren kümmert sich Herbert Wagner als ehrenamtlicher Betreuer um ihn: „Als ich ihn kennenlernte, konnte der Edi kaum sprechen“, erinnert er sich. „Ich habe ihm gesagt: Wir machen das Stück für Stück.“ Eduard S. machte Fortschritte. Lernte wieder, sich klarer zu artikulieren. „Er ist jemand, der sich nicht unterkriegen lässt“, sagt Wagner voller Anerkennung.
Auch gesundheitliche Rückschläge ertrug Eduard S. mit Langmut. So mussten die Ärzte dem halbseitig gelähmten Mann ein Bein abnehmen – wegen Durchblutungsstörungen.
Trotz all dem: Mit Hilfe eines Pflegediensts hat sich der 59-Jährige seine Selbstständigkeit erhalten können. Sein Betreuer Wagner sagt: „Das ist das Wichtigste für ihn, dass er nicht fremdbestimmt ist.“ Er will sein eigener Herr bleiben.
Seine Wohnung in Riem verlässt er nur selten. Und auch nur dann, wenn ihm jemand dabei hilft. Die Narben am Kopf bereiten ihm Probleme, wenn es draußen sehr warm oder sehr kalt ist. Oft ist er auch einfach zu müde, um sich aufzuraffen – weil er nachts nicht schlafen kann. Eduard S., der übrigens ein waschechter Münchner ist, berichtet: Dort, wo die Kugel austrat, habe er in der Nacht eine dicke Beule, die ihn störe. „Aufwachen. Umdrehen. Aufwachen. Umdrehen.“
An guten Tagen öffnet er seine Schatztruhe: ein Schrank mit hunderten von Schallplatten. Der Soundtrack seines Lebens – vor dem Kopfschuss.
Eduard S.s Verhältnisse sind bescheiden. Er lebt von staatlicher Hilfe. Und kommt mit seinem Geld auch aus. Nur wenn eine Anschaffung außer der Reihe ansteht, wird es knapp. Vor seiner Wohnung ist eine kleine Fläche Grün, um die er sich kümmern muss. Dafür bräuchte er einen Rasenmäher. Außerdem versagt der Staubsauger den Dienst.
Freilich kann er beide Geräte wegen seiner Behinderung nicht selbst bedienen. Aber er hat bereits eine Hilfskraft organisiert, die ihm das abnehmen würde. Auch der Kauf einer neuen Waschmaschine wäre eigentlich nötig. Allein: Das Geld dafür fehlt.
Vor ein paar Tagen hat Eduard S. alte Fotos von sich und seinem Lokal in der Thalkirchner Straße wiederentdeckt. Er hat sie in ein neues Album einsortiert. Stolz zeigt er, was er sich damals als junger Mann aufgebaut hatte. „Guad beinander war i“, erzählt er und deutet auf ein Bild von sich selbst. Er ist sicher, dass ihm seine Statur damals das Leben rettete. „Dünner? Geht das nimmer!“
Melancholisch wirkt er nicht, als er sich durch die Seiten des Albums blättert. Eher trotzig. Dann sagt er nochmal den Satz, der zu seinem Leitgedanken geworden ist. „Mit Fleiß leb’ ich. Mit Fleiß.“
- Themen: