Nach der Schule zum Psychologen

Stress, Angst, Krankheiten: Experten beklagen, dass Schüler zu sehr unter Druck gesetzt werden.
von  Tina Angerer
Mithalten, weitermachen, besser werden: Die Angst vor sozialem Abstieg spüren schon die Grundschüler, am Gymnasium nimmt der Druck weiter zu.
Mithalten, weitermachen, besser werden: Die Angst vor sozialem Abstieg spüren schon die Grundschüler, am Gymnasium nimmt der Druck weiter zu. © Techniker Krankenkasse

Experten beklagen, dass Schüler zu sehr unter Druck gesetzt werden. Die Auswirkungen sind in Bayern am deutlichsten spürbar. Stress, Angst, Krankheiten nehmen zu. Für Hobbys bleibt immer weniger Zeit

München - Morgen steht es schwarz auf weiß geschrieben, wie das erste Halbjahr gelaufen ist. 1,8 Millionen Schüler in Bayern nehmen am Freitag ihr Zwischenzeugnis entgegen. Für viele wird es dann auch heißen: Du musst besser werden! Dabei warnen Experten, dass Schüler längst unter immer mehr Stress leiden.

STRESS
Eine neue Studie der Techniker Krankenkasse (TK) zeigt: Die Hälfte aller Schüler fühlen sich von der Schule gestresst. Jedes siebte Kind steht stark unter Druck. Fast ein Drittel hat Konzentrationsstörungen, jedes siebte Kind hat häufig Kopfschmerzen – damit liegt Bayern vor allen anderen Bundesländern.

NACHHILFE
Immer mehr Schüler sind darauf angewiesen. Laut Landeselternvereinigung (LEV) hat in der fünften Klasse bereits jedes achte Kind Nachhilfe. Am höchsten ist der Bedarf in der Neunten, da bekommt ein Drittel der Schüler Nachhilfe. Es geht aber auch schon in der Grundschulen los – der Druck, das Übertrittszeugnis zu schaffen, ist hoch. Da spielt auch die Angst der Eltern eine Rolle, dass ihr Kind nach der Hauptschule keine Chancen hat. „Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist schon bei Grundschulkindern spürbar”, sagt Klaus Wenzel, Präsident des bayerischen Lehrer-und Lehrerinnenverbandes (BLLV).

ZU VIEL LERNSTOFF
Besonders an Gymnasien gilt: „Es gibt eine deutliche Verdichtung des Stoffes und gleichzeitig ein Anheben des Niveaus”, sagt Thomas Lillig von der LEV. Hans-Jürgen Tölle vom schulpsychologischen Dienst der Stadt München sagt: „Es gilt, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu lernen. Viel Stoff, viel Tempo, wenig Tiefe.”
Schuld sei auch die Umstellung auf das G8. „Nicht nur die Anforderungen in der Oberstufe, auch die in der Mittelstufe sind enorm gestiegen”, sagt Lillig. Dazu kommt heuer der doppelte Abiturjahrgang: Die G9-Schüler haben ihre Prüfungen bereits vor Ostern – das bedeutet wesentlich weniger Zeit für Facharbeit und Prüfungsvorbereitung.

ZU WENIG ZEIT
Mehr Stoff, mehr Nachmittagsunterricht, mehr Lernaufwand, das heißt weniger Zeit für anderes. Bei Kindern in den zehnten Klasse geben die Hälfte der Eltern an, dass für Hobbys zu wenig Zeit sei, in der elften sind es fast 80 Prozent. „Wir hören oft, dass Jugendliche den Sport aufgeben, weil sie es nicht mehr schaffen”, sagt Schulpsychologe Tölle. Auch freiwillige Aktivitäten in der Schule nehmen ab. „Teilnahme am Chor, in der Theatergruppe oder in der Bigband gehen stark zurück”, sagt Elternvertreter Lillig.

PSYCHISCHE PROBLEME
Dem Druck halten viele nicht stand. „Die Zahl der psychosomatischen Störungen und psychischen Erkrankungen nimmt bei Kindern und Jugendlichen drastisch zu”, sagt Florian Beutel vom sozialpsychiatrischen Dienst Neuhausen. Das beginnt bei Kopf und Bauchschmerzen und geht bis zu Selbstverletzungen und Depressionen. „Wenn sich alles nur um Schule dreht, wird es schwierig”, sagt Psychologe Tölle. Zeit für Freunde und Hobbys seien auch deswegen so wichtig, weil die Kinder dort auf einem anderen Feld Erfolgserlebnisse und Freude hätten, auch wenn es in der Schule nicht gut laufe. Rita Wüst vom „Münchner Bündnis gegen Depression” sagt es so: „Auch Kinder und Jugendliche müssen eine Work-Live-Balance finden.”
Laut Experten müsste jedes fünfte Kind behandelt werden, Tendenz steigend. Die Wartezeiten in den Kinder- und Jugendpsychiatrien sind lang, auch die neu eröffnete Klinik in der Nußbaumstraße ist schon voll ausgelastet.
„Die Lösung kann doch nicht sein, möglichst gute Kliniken aufzubauen, so sinnvoll das für die Betroffenen auch ist”, sagt BLLV-Präsident Klaus Wenzel. „Wenn Schulstress ganz offensichtlich ein Faktor ist, der Kinder und Jugendliche krank machen kann, müssen sich die Schulen verändern.” 

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