Nach der Schlacht

Am Hang hinter den Bierzelten schlafen Wiesn-Krieger ihren Rausch aus, Pärchen liefern sich zärtliche Gefechte und Taschendiebe warten hier auf eine günstige Gelegenheit
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Treffpunkt der Betrunkenen: Die "Kotzwiese" bei der Bavaria.
Sigi Müller Treffpunkt der Betrunkenen: Die "Kotzwiese" bei der Bavaria.

Am Hang hinter den Bierzelten schlafen Wiesn-Krieger ihren Rausch aus, Pärchen liefern sich zärtliche Gefechte und Taschendiebe warten hier auf eine günstige Gelegenheit

Acht Maß hat Michele mit den verquollenen Augen in sich hineingeschüttet, sagt einer, oder waren es fünf? Genau weiß es keiner der jungen Männer aus Genua, die vor ein paar Stunden auf der Wiesn ankamen. Es waren auf jeden Fall genug. Genug für Michele, um aus dem Hofbräuzelt zu torkeln und hier zu landen. Dem einst grünen Abschnitt, der von der Theresienwiese aus gesehen rechts von der Bavaria liegt. Wo die Bierleichen liegen, die, die sich einfach überschätzt oder in seliger Bierzeltatmosphäre den Absprung verpasst haben. An dem Ort, den man Promille- oder auch Kotzhügel nennt.

Hier vegetieren sie zu Hunderten, die Körperteile von sich gestreckt, röchelnd, schnaufend, schnarchend. Manche zucken, andere liegen stundenlang regungslos da. Ein bisschen erinnert die Szenerie an Momente monumentaler Hollywoodfilme, wenn sich der Nebel der Schlacht verzieht und den Blick freigibt auf die gefallenen Krieger.

Vor allem für Besucher des Hacker- und des Hofbräuzelts, die sich nicht mehr auf den Beinen halten können, liegt der matschig-braune, von Bier und Körperflüssigkeiten durchtränkte Ex-Grünstreifen günstig. Aus dem Zelt taumelt man über ein kleines Stück Asphalt, dann ist das Ziel schon erreicht. Zumindest für die, die es nicht mehr zum nächsten Taxi oder nach Hause schaffen. Oder nach einem Nickerchen gleich wieder weiterfeiern wollen.

Auch abseits von Schlaf und Erholung ist der Kotzhügel ein Ort der körperlichen Bedürfnisse. Pärchen knutschen engumschlungen und fummeln, umso heftiger, je tiefer die Sonne sinkt.

An den Bäumen öffnen junge Männer ihre Lederhosen und entledigen sich dessen, was sie im Festzelt vorher zu sich genommen haben. Manch einer muss sich gleich übergeben von so viel Bier. Widerlich und eklig finden das manche, die vorbeigehen. „Das ist für mich die Sau im Menschen“, sagt ein Mann im blauen Hemd, der oberhalb des Hügels das Treiben beobachtet. „Des muaß doch ned sei, oder?“

Andere Szenen sind tragisch. Wie die der Mutter, die das Gesicht ins Gras vergraben daliegt und sich gelegentlich von einer Seite auf die andere dreht. Sie ist mit ihrem Mann und drei Kindern auf die Wiesn gekommen, den Alkohol hat sie wohl nicht vertragen. Während die Mutter schläft, bewacht der Vater den Kinderwagen samt Nachwuchs. Er kann noch aufrecht stehen, einigermaßen.

Doch der Hang hinter den Zelten beschäftigt auch andere: Immer wieder huscht einer der Flaschensammler, die auf der Anhöhe warten, eilig über das Grün, um das Pfandgut in einen Beutel zu packen. Einige Beamte haben den Hügel wachsam im Blick. Für Taschendiebe sind die komatösen Bierleichen ein leichtes Opfer. Wer nach fünf Maß hier seinen Rausch ausschläft, der merkt wohl kaum, wenn man ihm in die Taschen greift. Die weiblichen Bieropfer stehen unter besonderem Schutz. Vergangene Woche vergewaltigten zwei Männer auf dem Abschnitt eine 18-jährige Irin.

Michele ist jetzt allein, die anderen Italiener sind ins Zelt zurück um weiterzufeiern. Er liegt inmitten von abgefieselten Hendlknochen, Papierfetzen, Socken, Kronkorken und leeren Bierflaschen. Wenigstens einen Kapuzenpullover haben sie ihm angezogen, damit er nicht friert, wenn es kälter wird. Es ist seine erste Wiesn. Irgendwann wird er aufstehen und zurückwanken. Auf die nächste Maß, bis zum nächsten Besuch auf dem Hügel neben der Bavaria.

Christoph Landsgesell

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