Muskelmaschinen in der Weltstadt mit Herzinfarkt

Im Olympia-Jahr hagelt es Kritik am Hochleistungssport – und an München. Denn schon damals sorgen hohe Mieten und Lebenshaltungskosten für Unmut
Karl Stankiewitz |
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Muskelmaschinen: Der russische Sprinter Waleri  Borsow  unterwegs zum olmpischen Gold beim 200-Meter-Lauf
Muskelmaschinen: Der russische Sprinter Waleri Borsow unterwegs zum olmpischen Gold beim 200-Meter-Lauf

München - Anti-Olympia“ heißt eines der Bücher im Vorfeld der Olympischen Spiele. Gegen Olympia und gegen München – das ist Thema der Kunst und der Publizistik geworden. Eine Welle von Polemik ergießt sich plötzlich über die „heitere“ Stadt. Nicht nur konkrete Missstände werden kritisiert, sondern das ganze Konzept – sowohl der Olympiade wie der gastgebenden Stadt.

Dabei kommt es zu ersten fundamentalen Auseinandersetzungen über die Zukunft der großen Städte allgemein und zu ersten, noch sehr verhaltenen Beschreibungen des „Raubtier-Kapitalismus“. „Es wird jetzt leider modern, sich auf München einzuschießen“, klagt Stadtentwicklungsreferent Hubert Abress, nachdem am ersten Wochenende im Januar 1972 eine ganze Breitseite von der Waterkant an die Isar abgefeuert worden ist: „Die unheimliche Stadt“ betitelt das Magazin der „Zeit“ eine lange Story, die OB Vogel „ein reines Kampfpamphlet“ nennt.

Zur selben Zeit zeichnet der „Spiegel“ als Titelgeschichte ein hässliches Porträt der „Olympiastadt München“. Beide Magazine illustrieren im Grunde nur, was ohnehin seit vielen Monaten an Hiobsbotschaften über München hereinbricht: die Stadt mit den höchsten Preisen und Mieten, dem wildesten Bodenwucher, der größtenAuto- und Ausländerdichte, der schlechtesten Luft, eine „Weltstadt mit Herzinfarkt“, wo mehr Menschen an Krebs sterben als irgendwo anders. Die „unheimliche Hauptstadt“ verliere allmählich ihre Struktur als intaktes Gemeinwesen, sie sei ein „idealtypisches Beispiel für die Misere aller Ballungsgebiete“ und drohe nun ein „deutsches New York“ zu werden, bilanziert der „Spiegel“. All diese Kritik wird inMünchen durchaus verstanden, denn auch in der lokalen Presse schließt man die Augen keineswegs vor den himmelschreienden Missständen.

Die Münchner wissen längst, dass nicht alles Gold ist, was olympisch glänzt. Aber sie wollen auch die Kehrseite der Medaille nicht übersehen, den Satz von Thomas Mann: „Und München leuchtete“, der – ins Präsens versetzt – auf der Rückseite einer Art Verdienstordens aufgeprägt ist. Sie vermuten, dass ein Teil der Kritik an ihrer geliebten Stadt einfach nur auf Neid beruht. Nicht Kritik also ist es, was die Münchner ärgert. Schlimmer trifft sie, wenn man sie als Dorfdeppen schildert, wie es gerade das Fernsehen getan hat. Der Tatort „Das Münchner Kindl“ wird im„Millionendorf“ als ziemlich blödsinnige Karikatur empfunden: Ein Kriminaler, den nur sein Bier trinkender Dackel interessiert, und Ganovenmit eher Wiener Dialekt – das sind gewiss keine typischen Münchner. „Wir wurden halt,“ resigniert Kriminaldirektor Reinhard Rupprecht, „wieder mal als die ,blöden Bayern’ verkauft.“

Grundsatzkritik an den Olympischen Spielen üben viele der 1800 Wissenschaftler aus aller Welt, die in der vorolympischen Woche zu einem Kongress zusammenkommen: Provokativ versucht die im Angela-Davis-Look auftretende Soziologin Ulrike Prokov, den Massen- und Schausport der Klasse vonBesitzbürgern zuzuordnen. Diesen unterstellt sie, durch Hinwendung zum Sport, durch „künstliche Demonstration von Unnützlichkeit“ ihre strukturelle Unfähigkeit zur Kritik an der Gesellschaft zu kompensieren sowie Unzufriedenheit und Aggressionen abzubauen.

Die Anti-Olympierin hinterlässt ihr Publikum ziemlich ratlos mit der Frage: „Kann Sport zur Emanzipation benachteiligter sozialer Gruppen beitragen?“ Darüber ist bislang kaum nachgedacht worden. Es sei denn von APO-Spaßvogel Reinhard Wetter. Zusammen mit Hans-Horst Henschen gibt er ein Buch heraus mit dem Titel „Anti-Olympia – ein Beitrag zur mutwilligen Diffamierung und öffentlichen Destruktion der Olympischen Spiele und ihrer Narreteien“. Otto Gruppe, Direktor des Instituts für Leibesübungen an der Uni Tübingen, kennzeichnet den Sportbetrieb als Teil der Populärkultur, in der die Verhaltensmuster vormals elitärer Schichten übernommen würden. Wie Zirkus habe er Warencharakter, sei angewiesen aufWerbung und Konsum. Richtig problematisch werde es dann, wenn nationales Pathos hinzukomme und die Sportler zu Galionsfiguren für das Nationalprestige hochstilisiert werden.

Kardinal Suenens, Erzbischof von Brüssel, bekennt sich zu althergebrachten Grundthesen: dass Sport zur menschlichen Entfaltung beitrage, das innere Gleichgewicht stabilisiere, Selbstbeherrschung und eine gemeinsame Weltsprache entstehen lasse. Andere geistliche Theoretiker, wie der Spanier José Cagigal, äußern sogar die Überzeugung, dass der sportlicheWettkampf von heute den Krieg von gestern ersetze, indem er die natürliche Aggressivität des Menschen spielerisch- kämpferisch ableite. Hans Lenk, Ordinarius für Philosophie in Karlsruhe und ehemaliges Mitglied des deutschen „Gold-Achters“, wendet sich gegen die in West und Ost gehätschelten „maschinellen Medaillenproduzenten“, gegen „Hochleistungsmuskelmaschinen“ und „nützliche Leistungsidioten“. Auch Spitzenathleten seien Menschen. Als neues Leitbild fordert Lenk den mündigen und aufgeklärten Sportler.

Auf der linken Außenbahn stürmt eine Studentendelegation: Sport sei „ein gesellschaftlicher Bereich, in dem Repressionen, also Herrschaft des Menschen über den Menschen, aufzudecken und bewusst zumachen, d.h. emanzipatorische Ansätze in Gang zu setzen sind.“ Schwach vertreten ist bei diesem Wettkampf der Geister nur eine Gruppe: die Dritte Welt. Als das Hauptthema „Sport und Konflikt“ zur Debatte steht, sieht man im Zuhörersaal einen einzigen Mann schwarzer Hautfarbe. Das Hindernis, das hier zu überwinden wäre, beschreibt am markantesten Professor Mario Riva Patterson aus Havanna: „Was Sie hier diskutieren, sind im Grunde nur Luxusprobleme der reichen Völker.“

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