Münchnerin tauchte zur Titanic: "Wie Aufzugfahren"

Für Brigitte Saar geht vor 13 Jahren ein Traum in Erfüllung: Als einer von wenigen Menschen überhaupt schwebt sie in einer Tauchkapsel zum Wrack des Jahrhundertschiffs hinab
Eine glanzvolle Ouvertüre. Ein tragischer Schlussakkord. Dazwischen Kate Winslet und Leonardo DiCaprio als Rose und Jack eng umschlungen an die Reling gelehnt, begleitet von Celine Dions „My Heart will go on“: Für die meisten Menschen wird die Titanic immer das Schiff bleiben, das Regisseur James Cameron in seinem Hollywoodfilm untergehen ließ. Denn das echte Wrack ist fast unerreichbar: Seit dem 15. April 1912 liegt es in fast 4000 Metern Meerestiefe, mehr als 70 Jahre davon unentdeckt. Eine Tauchfahrt dorthin kostet rund 45000 Euro.
Erst rund 200 Mal schwebten bemannte Tauchkapseln bislang herab, allein 33 mal davon an Bord: Cameron. Eine der wenigen, die außer ihm die echte Titanic gesehen haben, ist die Münchnerin Brigitte Saar. Für die AZ ist sie in Gedanken nochmal hinabgetaucht.
„Für mich ist vor 13 Jahren ein Traum in Erfüllung gegangen“, sagt die 37-Jährige, die heute als ZDF-Reporterin arbeitet und sich in ihrer Freizeit in sechs Titanic-Vereinen engagiert. „Es war ein unglaubliches Erlebnis. Und ich würde es jederzeit wieder machen – wenn ich bloß das nötige Kleingeld hätte.“ 1998, als die Titanic für sie noch nicht mehr ist als ein privates Hobby, macht sie bei einem Preisausschreiben des Senders Pro7 mit – und gewinnt.
Zehn Tage lang begibt sie sich mit dem Forschungsschiff „Academik Keldysh“ auf die Spuren der Titanic, begleitet von Kameras und dem „Welt der Wunder“-Moderator. Allein die Reise zur Untergangsstelle dauert vom kanadischen St. John’s zwei Tage. Am 9. September 1998 ist es soweit: Mit der Tauchkapsel MIR 2, in deren Kopf gerade genug Platz ist für Pilot Evgeny und zwei Mitreisende, geht es hinab in die Tiefen des Ozeans.
„Ein Gefühl wie Aufzugfahren“, erinnert sich Saar, als sie in ihrem Fotoalbum blättert. „Nur hatte der Lift keinen Liftschacht.“ Pilot Evgeny, der Moderator und Saar schweben hinab in die tiefschwarze Nacht, vorbei an Tiefseeshrimps und leuchtendem Plankton. Um Strom zu sparen, macht Evgeny auf dem Weg nach unten nur selten das Außenlicht an. Nach zweieinhalb Stunden setzt sich bruchstückartig die Titanic vor ihren Augen zusammen: Eine riesige Wand, die sich vom Meeresboden nach oben türmt. Meter für Meter arbeitet sich die Kapsel nach oben.
Brigitte Saar erkennt das Promenadendeck. Das Bootsdeck, wo sich in der Unglücksnacht hunderte Passagiere sammelten. Als Saar die Reling erkennt, denkt sie unwillkürlich an die wohl berühmteste Filmszene. Und sie muss lächeln: „Direkt an der Stelle, an die sich Rose und Jack im Film an die Reling lehnen, wuchs ein kleines Pflänzchen.“
Hunderte Fotos und Deckpläne hatte sie vor ihrer Abreise studiert. Kaum ein Buch über das Schicksal der Titanic, das sie nicht bereits als Jugendliche verschlungen hatte: Denn seit sie mit 13 den Roman „A night to remember“ von ihrer Oma zu lesen bekommen hatte, ließ sie das Schicksal der Titanic nicht mehr los. 3800 Meter unter der Meeresfläche, im Halbdunkel, zahlt sich all das als Orientierungshilfe aus.
Dann zeigt Pilot Evgeny auf eine eingestürzte Wand und einen weißen Fleck, der sich vom Dunkeln abhebt: Die Badewanne von Kapitän Edward John Smith. Dahinter sein Waschtisch. Gegenstände aus dem Alltag. „Ich war unglaublich bewegt von diesem Anblick“, erinnert sich Saar. Auch das Treppenhaus kommt ins Blickfeld, der einst pompöse glasüberdachte Aufgang der ersten Klasse. Die skellettartigen Kristallleuchter hängen noch in ihrer Verankerung.
Die Tauchkapsel sinkt wieder tiefer, schwebt an den Kesseln der Titanic vorbei. 650 Tonnen Kohle, erzählt Saar, wurden dort jeden Tag reingeschaufelt, um das Megaschiff zu bewegen. Doch das wird Saar erst im Nachhinein realisieren, als sie einige Wochen später als Praktikantin das Filmmaterial sichtet. Und dann kommt der Moment, in dem sich Saar nichts mehr wünscht, als möglichst schnell wieder an die Oberfläche zu kommen.
Es ist nicht der Moment, in dem ihre Blase drückt. Der kommt erst später. Nein, die Anspannung wächst, als eine der drei Schiffsschrauben der Titanic vor den Augen der kleinen Crew auftauchen. Noch heute klingt es ihr in den Ohren, wie Evgeny in gebrochenem Englisch sagt: „I never came so close.“ So nah war selbst er noch nie den Schiffsschrauben. „In diesem Moment habe ich die Luft angehalten. Denn diese Umgebung gilt als gefährlichster Ort. Von dort kommt man nur mit einem Rückwärtsmanöver weg. Das Problem ist: Die Kapsel ist nicht gerade gebaut fürs Rückwärtsfahren.“
Pilot Evgeny manövriert gekonnt. Doch Saar hat nur noch einen Wunsch: „Lasst uns nach oben gehen.“ Der Aufstieg beginnt. Nach elf Stunden atmet Saar wieder frische Luft. Das Abenteuer ist zu Ende. Man muss nicht übertreiben um zu sagen, dass die Reise zur Titanic das ganze Leben von Brigitte Saar verändert hat. „Vor dem Tauchgang war ich allein mit meinem Hobby“ sagt sie. „Nach der Fernsehsendung schrieben plötzlich fremde Menschen Briefe an mich oder riefen an und fragten, ob ich nicht einen Vortrag halten könnte.“
So kam es, dass sie sich einen Namen in der Titanic-Szene machte. Auch ihre Uni-Abschlussarbeit handelte wie selbstverständlich vom Schiff. Heute gibt sie Vereinszeitschriften heraus, vernetzt „Titanicer“ auf der ganzen Welt, organisiert Reisen. Und auch sie selbst wird der Titanic nächste Woche wieder ganz nah sein: In der Nacht von 14. auf 15. April, genau hundert Jahre nach der Katastrophe, wird sie an der Unglücksstelle auf einem Kreuzfahrtschiff der Opfer gedenken.
Regale voller Titanic-Nippes sucht man in ihrer Wohnung dennoch vergeblich. Nur wenige Dinge wie eine Keksdose und eine Kakaotasse erzählen von Saars Leidenschaft. Die Kakaotasse ist dafür ein Liebhaberstück: 400 Euro zahlte Saar dafür, sie stammt vom Schwesternschiff der Titanic, der Olympic. Mehr braucht Saar nicht. Schließlich muss sie nur in ihre Erinnerung abtauchen, um die Titanic vor Augen zu haben.
Ob sie wohl jemals genug von der Titanic haben könnte? „Selbst wenn ich eines Tages die Leidenschaft am Schiff verlieren sollte, werde ich mich weiter damit beschäftigen“, sagt sie. „Denn daraus sind echte Freundschaften entstanden.“ Ein Leben für die Titanic eben.