Münchnerin (59): "So lebe ich mit Demenz"

Helga Rohra hat seit fünf Jahren Halluzinationen. Sie weiß nicht mehr, wo im Supermarkt um die Ecke die Fanta steht und vergisst häufig, wie ihr Laptop funktioniert. Trotzdem gibt sie nicht auf.
von  Amina Linke
"Wenn ich nicht mehr weiter weiß, zeigt mir mein Hund den Weg." Helga Rohra mit ihrem Mops.
"Wenn ich nicht mehr weiter weiß, zeigt mir mein Hund den Weg." Helga Rohra mit ihrem Mops. © Gregor Feindt

Helga Rohra (59) lebt seit fünf Jahren mit Lewy-Body-Demenz. Genauso lange setzt sie sich öffentlich für Betroffene ein. Zunächst unter dem Pseudonym „Helen Merlin“. Mitleid wollte sie nie haben. Mittlerweile hat sie ihr erstes Buch geschrieben. Mit Scharfsinn und einer gehörigen Portion Humor hält Rohra in „Aus dem Schatten treten“ (Mabuse Verlag, 16,90 Euro) der Gesellschaft den Spiegel vor, erzählt von ihrem Leben als Betroffene. Das reicht ihr aber nicht: Sie ist außerdem im Vorstand der Alzheimer Gesellschaft München, reist von internationalen Ärztekongressen zu Treffen europäischer Demenzkranker und steht aktuell in der engeren Auswahl für die Präsidentschaft der Dementen-Vertretung für die „Alzheimer’s Association“, der Dachorganisation aller Alzheimer-Gesellschaften. Ihr zweites Buch soll voraussichtlich im Herbst erscheinen. Arbeitstitel: „Philosophie in der Demenz – und was die Gesunden von den Dementen lernen können“ 

AZ: Frau Rohra, was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?
HELGA ROHRA: Ich sehe mich als kleines Mädchen, als Jugendliche, als junge Mutter. Aber nie wie ich heute aussehe. Optische Halluzinationen sind das, eine typische Folge meiner Form von Demenz. Permanent laufen diese Sekunden-Sequenzen am äußeren Rand meines Blickwinkels ab, ob ich will oder nicht.

Was war das Schönste, was Sie gesehen haben?
Meine Geburt. In Farbe. Ich habe eine alte Tante angerufen und sie gefragt, ob es so gewesen ist, wie ich es gesehen habe. Sie war dabei, bejahte: Ich wurde in der Küche auf einem Sofa geboren.

Machen einen die Halluzinationen nicht irgendwann wahnsinnig?
Nein. Momentan betrachte ich die Filme noch als eine Bereicherung, eine Gabe. Wenn die Krankheit allerdings weiter fortschreitet, werden die Bilder schlimmer. Dann sieht man wilde, grässliche Tiere, die einen zerfleischen. Da kommt man um Medikamente nicht mehr rum.

Seit fünf Jahren sehen Sie diese Bilder. Wann haben Sie zum ersten Mal gespürt, dass da etwas nicht stimmt?
Ich war damals eine viel gebuchte Dolmetscherin, hatte mich auf den Bereich Medizin spezialisiert, habe fünf Fremdsprachen gesprochen. Nach einer Konferenz konnte ich mich plötzlich nicht mehr an den Inhalt erinnern, hatte die Vokabeln für einige Fachbegriffe vergessen. Ich dachte, ich wäre einfach überarbeitet, habe eine Pause eingelegt.

Die hat aber nicht geholfen.
Nein. Es ging mir immer schlechter, ich musste immer mehr Aufträge absagen. Es waren viele kleine Sachen, die ich auf einmal nicht mehr konnte, Kaffeemachen zum Beispiel. Wie ging noch mal die Reihenfolge: Kaffee, Wasser, Filter? Auch konnte ich Sachen nicht mehr benennen, statt „Hausmeister“ habe ich „Haussocke“ gesagt. Anfangs lachten mein Sohn Jens und ich noch darüber. Aber irgendwann konnte ich meinen Laptop nicht mehr bedienen, mein bisheriges Hauptarbeitsmittel. Ich wurde depressiv, habe viel geweint.

Was haben Sie gemacht?
Mich aufgerafft, einen Arzt aufgesucht. Der hatte die Diagnose sofort parat: Burn-Out. Ich sollte mich ausruhen, viel spazieren gehen. Ich bin spazieren gegangen – Monate. Nichts. Irgendwann fing ich dann an, ein Ausfall-Tagebuch zu schreiben. Alles, was ich auf einmal nicht mehr konnte, nicht mehr wusste, habe ich notiert mit genauen Datums- und Zeitangaben. Aber auch damit konnte mein damaliger Arzt nichts anfangen.

Sie waren erst 54 Jahre alt.
Eine Demenzdiagnose ist eine diffizile Angelegenheit, es gibt viele unterschiedliche Symptome. Dennoch ist es kein Alte-Leute-Syndrom, auch 30-Jährige können betroffen sein. Das ist nur leider nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert, auch bei vielen Ärzten nicht. Ein Problem, das angegangen, über das informiert und für das gleichzeitig sensibilisiert werden muss.

Dafür halten Sie Vorträge, Sie haben ein Buch geschrieben, das zweite ist in der Mache. Wie schaffen Sie das?
Mit viel Disziplin. Und einer sehr positiven Lebenseinstellung. Ich sehe die Demenz mittlerweile als Chance, mich einzusetzen, mich anders kennen zu lernen. Aber auch der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten: Wie demenzfreundlich ist Deutschland? Dafür arbeite ich sehr strukturiert an mir, zusammen mit einem Team. Ich vergleiche das oft mit einem Leistungssportler. Auch ich habe ein striktes Programm. Tagtäglich.

Laufen, strecken, dehnen?
So ähnlich – nur mental. Ich beginne den Tag mit einem Ritual: Ich bete, gehe dann in den Park, mache dort Übungen, den Morgengruß etwa. Nach dem Frühstück öffne ich um elf Uhr mein Büro, schalte meinen Laptop ein. Ich habe seit einem Jahr Computer-Unterricht, lerne durch ständige Wiederholungen.

Und vergessen trotzdem.
Ja, aber das Training hilft die Krankheits-Abschnitte zu verlängern. Demente werden mit der Diagnose gern sofort als defizitär abgestempelt, als Menschen ohne Ressourcen gesehen. Wir haben aber viele Ressourcen – egal, in welcher Phase wir sind.

Wie viele Phasen gibt es?
Drei.

In welcher sind Sie?
In der zweiten.

Das heißt?
Ich habe noch zwei, drei Jahre, dann geht’s ins Heim, laut Statistik. Aber ich trainiere dagegen an.

Wie sieht Ihr Training aus?
Ich lese täglich meine Presse, die Abendzeitung ist ein Muss. Ich suche mir Artikel raus, notiere mir die Hauptideen, schreibe sie ab. Am Wochenende prüft mich mein Sohn: Er erstellt einen Test aus diesen Artikeln. Seine Fragen dazu muss ich beantworten, und mein Sohn benotet dann das Ergebnis.

Ihr Sohn hat Asperger, eine Form des Autismus, ist hoch begabt. Ironie des Schicksals?
Die Mutter vergisst alles, der Sohn weiß alles – das perfekte Team, oder? Jens hilft mir bei sehr vielem. Beim Einkaufen zum Beispiel. Fehlt etwas, schneide ich das Lebensmittel aus einem Prospekt aus. Er klebt die Bilder auf ein Din A4 Papier, das den Supermarkt darstellt, unten ist der Eingang. Ich gehe immer in den gleichen Supermarkt, die Lebensmittel sind also immer am selben Platz. Rechts nach dem Eingang ist die Limo platziert, an der Stelle klebt auf meinem Einkaufszettel dann zum Beispiel ein Fanta-Bild.

Wie bewältigen Sie sonst Ihren Alltag?
Durch die immer gleichen Abläufe: Fahre ich mit der Bahn, steige ich in den hinteren Waggon, immer. Dann weiß ich, wo ich raus muss, welche Treppe ich nehmen muss. Ich gehe in die gleichen Cafés, in die gleichen Klamottengeschäfte. Wenn ich mal nicht weiter weiß, hilft mir mein Hund, er kennt die Wege.

Das hört sich eintönig an, Demenz ist aber wohl alles andere. Sie soll die persönlichen Vorlieben verändern – plötzliches Interesse am Sumo-Ringen bekommen?
Noch nicht. Momentan interessiere ich mich sehr für das Malen. Das habe ich früher nie gemacht, ich hatte gar nicht die Zeit dafür. Fotografieren steht auch hoch im Kurs. Ich habe eine ganz leichte Kamera, nur mit An- und Aus-Knopf. Demente Männer sollen aber durchaus eine Affinität für’s Sumo-Ringen entwickeln. Warum, weiß keiner. Wir Frauen sind da eher künstlerisch motiviert: Schöne Musik könnte ich stundenlang hören.

Haben Sie einen bestimmten Lieblings-Titel?
Gloria Gaynor „I will survive“. Und von Unheilig „So warst Du“ – das wünsche ich mir für meine Beerdigung.
 

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