Interview

Münchnerin (19) über ihre Rettung aus Kabul: "Überall fielen Schüsse"

Die 19-jährige Samira besucht die Großeltern in der afghanischen Hauptstadt - dann kommen Taliban und mit ihnen die Furcht.
von  Leonie Fuchs
Die gerettete Münchnerin Samira (l.) mit ihrem Bruder und ihrer Mutter sowie Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK).
Die gerettete Münchnerin Samira (l.) mit ihrem Bruder und ihrer Mutter sowie Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK). © privat

München - Die 19-jährige Abiturientin Samira (Name geändert) aus München kam mit neun Monaten mit ihrer Mutter von Kabul nach Deutschland. Bald studiert sie Jura.

AZ: Samira, alles begann mit der Idee, dass Sie, Ihr Bruder und Ihre Mutter noch einmal Ihre Großeltern in Kabul besuchen wollten, bevor die Taliban die Macht an sich reißen würden. Wie war die Situation, als Sie gelandet sind?
SAMIRA: Es war total schön. Ich erinnere mich daran, dass wir den Flughafen verlassen und eine Gruppe Männer gesehen haben, die auf der Straße getanzt haben. Keine Taliban. Alles friedlich. Ich habe mich sehr gefreut, meine Großeltern und meinen Onkel zu sehen - auf Basare zu gehen, auf das afghanische Essen und die Freundlichkeit der Menschen. Plötzlich kam die Nachricht, dass die Taliban im Norden Städte eingenommen haben.

Taliban nimmt Kabul ein: "Damit hatten wir nicht gerechnet"

Es ging wahnsinnig schnell.
Ja, damit hatten wir nicht gerechnet. Die Geheimdienste hatten kommuniziert, dass es drei bis sechs Monate dauern könnte - und dann haben die Taliban innerhalb von Tagen alles eingenommen. Das hatten wir in den Nachrichten gehört. Das war für alle ein Schock. Letzten Sonntag haben wir dann gehört, dass es Evakuierungsflüge gibt. Ich habe gleich dem Auswärtigen Amt geschrieben, dass wir auf diese Liste wollen. Am Montag habe ich die Antwort bekommen, dass mein Bruder und ich auf der Liste stehen, meine Mama jedoch nicht. Wir haben einen deutschen Pass, meine Mutter seit knapp 20 Jahren einen befristeten Aufenthaltstitel. Wir wohnen in Deutschland aber gleich lang, ich bin mit ihr, als ich neun Monate alt war, nach München gekommen. Dass in so einer Notsituation auf bürokratischen Kleinigkeiten geachtet wird, ist doch lächerlich.

Münchnerin über Situation am Flughafen in Kabul: "Es war schrecklich - kein Durchkommen"

Sie haben sich dafür entschieden, zu bleiben.
Ja. Ein paar Tage später haben wir eine Nachricht bekommen, dass unsere Mutter mit ausreisen darf. Jamila Schäfer (Grünen-Direktkandidatin für den Bundestag für München-Süd, d. Red.) hatte Druck beim Auswärtigen Amt gemacht.

Wie gelang es, zum Hamid-Karzai-Airport zu kommen?
Das Problem war vor allem, in den Flughafen hinein zu gelangen. Letzte Woche am Montag um sieben Uhr haben wir es das erste Mal versucht. Da habe ich auch das erste Mal einen Taliban ganz nah gesehen. Die haben einen Checkpoint bewacht und Autos kontrolliert. Aber die Autos, in denen Frauen saßen, haben sie zum Glück durchgewunken. Sie haben die Leute auf dem Weg zum Flughafen mit ihren Waffen zurückgedrängt. Am Flughafen selbst war es schrecklich - kein Durchkommen. Am Dienstag kam per Mail der Landsleute-Brief vom Auswärtigen Amt mit den Angaben, wohin wir gehen sollen.

Sie haben sich also wieder auf den Weg zum Flughafen gemacht?
Ja, diesmal zum North Gate, das aber zu war.

Wie war die Situation vor Ort?
Überall sind Schüsse von afghanischen und amerikanischen Soldaten gefallen, direkt über unsere Köpfe hinweg. Die Soldaten haben versucht, die Menschen von den Toren wegzuhalten. Sie haben Blendgranaten eingesetzt, ein grünes Gas, durch das man nichts mehr gesehen hat. Es kam zu einer Massenpanik, es wurde auf anderen Menschen herumgetrampelt. Mit jedem Tag wurde die Lage schlimmer.

"Meine Mama hört immer noch die Schüsse"

Inwiefern?
Anfangs wurde weniger geschossen. Ein Mann musste sein T-Shirt ausziehen und die Soldaten haben ihn auf den Rücken getreten und geschlagen. Ein Soldat hatte die Waffe direkt auf uns gerichtet. Mein Bruder wurde von einer Projektilhülse getroffen. Wir haben Tränengas abbekommen.

Wie geht es Ihnen beiden jetzt?
Man merkt, dass mein Bruder traumatisiert ist. Nachts schläft er schlecht. Er ist erst zwölf Jahre alt. Ich habe diese Woche auch das erste Mal davon geträumt. In meinem Traum bin in einer Menschenmenge am Flughafen versunken. Meine Mama hört immer noch die Schüsse. Wir sind alle sehr mitgenommen.

Waren die Taliban auch am Flughafen präsent?
Nur am zivilen Teil. Am militärischen Tor waren amerikanische Soldaten, die aber nur Amerikaner evakuiert haben. Auch Soldaten aus europäischen Ländern wollten uns trotz meines Reisepasses nicht helfen. Wir haben immer wieder versucht, deutsche Soldaten zu finden. Die Taliban hat man vor allem in der Stadt in ihren Geländewagen fahren sehen.

Wie gelang Ihnen letztendlich die Flucht?
Eine andere Frau hatte es in den Flughafen geschafft. Sie hat für uns den Kontakt mit dem KSK (Kommando Spezialkräfte, d. Red.) hergestellt. Das war letzten Samstag. Wir haben uns durch die Menschenmenge vorgekämpft. Mit dem KSK hatten wir ausgemacht, dass wir einen Anruf bekommen, mit dem Codewort und dem Treffpunkt. Wir hätten ihnen unseren Standort über das Handy schicken sollen. Aber mein Handy ging aus, Akku leer.

Und dann?
Durch das Gate haben wir es irgendwie alleine geschafft und dann durch Zufall einen deutschen Soldaten gefunden. Ich habe unsere Pässe hochgehalten und gerufen: "Wir sind Deutsche, lasst uns rein." Kurz vor Mitternacht wurden wir ins Gate reingelassen. Elf Soldaten haben einen Ring um uns gebildet und uns in den Flughafen reingebracht.

Münchner Familie versuchte sieben Mal, in den Flughafen zu gelangen

Was denkt man in so einem Moment?
Ich bin dankbar dafür, dass sie uns da rausgeholt haben.

Wie ging es weiter?
Wir wurden abgetastet, unser Gepäck wurde kontrolliert und wir haben ein Bändchen bekommen - das war sozusagen die Eintrittskarte in das Flugzeug. Dann haben wir weitere 13 Stunden am Flughafen gewartet und auf Holzpaletten die Nacht verbracht. Aber wir waren einfach erleichtert, weil wir wussten: Jetzt sind wir sicher, wir kommen nach Hause. Sechs Mal, jeden Tag, waren wir am Flughafen und dachten, wir kommen da nie wieder weg. Beim siebten Mal hat es Gott sei Dank geklappt. Um 13 Uhr ging der Flug mit der Evakuierungsmaschine, einem A400M der Bundeswehr.

In der Evakuierungsmaschine.
In der Evakuierungsmaschine.

Sieben Versuche.
Ja, wir wollten schon aufgeben. Wir haben uns alleine gelassen gefühlt. Jeden Tag standen wir aufs Neue vor den Gates, haben uns gefragt, warum andere reingelassen werden und wir nicht. Stunden haben wir dort verbracht, zwei, drei Stunden geschlafen und sind wieder zurück zum Flughafen gefahren.

Wie erging es Ihnen bei der Ankunft in Deutschland?
Als wir endlich deutschen Boden betreten haben, habe ich allen geschrieben, dass wir zurück sind. Gestern habe ich Zeit mit der Familie verbracht und mit meinem Papa Geschichten ausgetauscht.

"Das Leben wird systematisch kontrolliert"

Am 31. August, am Dienstag, endet der Evakuierungseinsatz der Amerikaner spätestens. Was löst dies bei den Menschen vor Ort aus?
Wenn die Taliban dort an die Macht kommen und die Evakuierungsflüge aufhören - das wird katastrophal. Die Menschen werden leiden, sterben. Die Situation hat sich jetzt schon verschlechtert. Geschäfte wurden geschlossen. Plakate, die Frauen ohne Kopftücher zeigten, wurden von den Taliban abgesägt. Auch das alltägliche Leben ist bald vorbei. Frauen müssen Zuhause bleiben. Man darf nicht mehr alleine zum Arzt gehen, da muss man vorher die Taliban fragen, die einen dort hinbegleiten. Das Leben wird systematisch kontrolliert. Kinder dürfen nicht mehr in die Schule gehen. Söhne müssen sich den Taliban anschließen, oder werden umgebracht. Töchter werden verschleppt. Man muss aufpassen, mit wem man spricht, worüber man spricht. So wie mein Onkel gerade.

Ihr Onkel?
Mein Onkel ist noch in Kabul. Er war in der Armee und hat mit den amerikanischen Soldaten zusammen gearbeitet. Er hat gestern erfahren, dass die Taliban gezielt nach Menschen suchen, die für die Armee gearbeitet haben. Ich habe Angst, dass ich meine Familie dort nie wieder sehe, dass sie sterben.

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