Münchner Zeitzeugen Mitgutsch und Seidl - Die Jagd nach Erinnerungen
München - Eine halbe Stunde Eisbrecher plant Nikolai Schulz immer ungefähr ein – dann kennen ihn die Zeitzeugen, vertrauen ihm, wissen, dass nichts, das sie aus ihrer Kindheit und Jugend erzählen, zu unwichtig sein kann, um es zu erzählen. Und dann sprudeln die Erinnerungen nur so aus ihnen heraus.
So ist es auch bei Leonhard Michael Seidl. Etwas skeptisch sitzt der 67-Jährige auf dem Sofa in Schulz’ Wohnung, die Hände auf den Knien abgelegt. Zwei Stunden plane er etwa pro Gespräch ein, erklärt Schulz seinem Gast, zehn kleine Videogeschichten würden etwa entstehen aus so einem Treffen. "Zehn?“, fragt Seidl ungläubig. "So viel hab ich doch gar nicht zu erzählen!“
Und dann erzählt er trotzdem – davon, wie er in München aufgewachsen ist, als es am Giesinger Berg noch Bauernhöfe gab und er einen Schulhort in der Kistlerstraße besuchte – streng katholisch, "bigott, bis zur Erbsünde alles dabei, daran habe ich heute noch zu tragen“.
Zwergenschule und Kesselflicker: Schulz sucht das Besondere
Oder wie die Wohnung seiner Familie in der Grünwalder Straße regelmäßig zur erweiterten Stadiontribüne für Bundesligaspiele der Sechzger wurde: "Wir hatten drei Fenster zum Stadion, von da konnte man alles sehen und hören. Pro Fenster standen zwei Menschen vorn, zwei auf Schemeln dahinter, dahinter ein Tisch mit zwei Stühlen drauf. Und ein Siebter konnte durch die Lücke zwischen den Stühlen schauen.“
Genau so etwas sucht Nikolai Schulz. Blitzlichter nennt er es. "Es geht nicht um einen gesamten Lebenslauf, sondern um zeitspezifische Erlebnisse und Dinge, die heute nicht mehr denkbar wären.“ Zum Beispiel die Zwergenschule, von der ein Lehrer erzählt, der dort die erste bis vierte Klasse unterrichtete. Oder eine Metzgermeisterin, die 1940 als einzige Frau zwischen 70 Männern ihre Abschlussprüfung machte. Oder die Erinnerung an den Kesselflicker, der vorbeikam und die metallenen Nachttöpfe der Familie reparierte.

"Mein Traum ist es immer, wenn ich zufällig einen Auslöser erwische“, sagt Schulz. "Wenn die Menschen vor mir ihre Maske fallenlassen und frei erzählen und die Augen anfangen zu funkeln.“ Wie bei Leonhard Michael Seidl, als er von den Bier- und Hendl-Marken erzählt, mit denen Bekannte sich während der Wiesnzeit versuchten, einen Stadionplatz am Fenster zu sichern.
Auch Christa Ritter, eine der "Haremsdamen“ von Rainer Langhans, ist in der Videosammlung dabei und erzählt von ihrer Arbeit als junge Regie-Assistentin in München, und Feinkost-König Gerd Käfer († 82) hat in einem Zimmer voller Wandbilder und Figuren sitzend von den kulinarischen Vorlieben des ehemaligen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß auf der Wiesn berichtet.
"Wimmelbuch"-Autor Ali Mitgutsch hat viel zu erzählen
Der "Wimmelbuch“-Autor Ali Mitgutsch hat gleich mehrere Geschichten zu erzählen aus seiner Kindheit und Jugend in Schwabing. Zum Beispiel von seinem ersten Kuss im Jahr 1935, den er akribisch und aufgeregt vorbereitete – und dann "schmeckte der eigentlich nur schrecklich nach Lippenstift“.
Oder über den "Krieg“, den er und seine Freunde aus der Schraudolph- und der Adalbertstraße in der Nachkriegszeit mit anderen Kindern hatten: "Besonders wilde Hunde, das waren die Fallmerayerstraßler, das waren besonders schreckliche, mit kahlgeschorenen Köpfen, damit man nicht ständig Entlausungsmittel kaufen musste.“
Mit Dachlattenstücken bewaffnet sei die Rotte die Isabellastraße runtergezogen, "wir schrien alle furchtbar und schwangen die Dachlatten“, erzählt er lachend. Irgendwann schaute er sich um und stellte fest: Alle anderen waren auf dem Rückweg. "Das hat mich fürs Leben gelehrt, dass die mit den großen Sprüchen auf keinen Fall die sind, auf die man sich verlassen sollte.“

1300 Videos hat Nikolai Schulz schon produziert, mit mehr als 200 Zeitzeugen gesprochen. Darunter eine 108-Jährige, die sich nach dem Krieg durchschlug als Vertreterin für Staubsauger und Benimmbücher. Doch diese Geschichten sterben mit ihren Erzählern. Umso wichtiger wird Schulz' Arbeit.
Seine ehrenamtliche, spendenfinanzierte Arbeit, das muss man dazusagen. Vor acht Jahren kündigte Schulz seinen Job in der Computerbranche und startete den Münchner Memoro-Ableger, mit einem Erbe als finanzielle Sicherheit. Das Geld ist verbraucht, Schulz arbeitet wieder Vollzeit. "Aber das Projekt sterben lassen? Das geht nicht“, sagt er. "Es ist wichtig, es macht mir Spaß und manche Zeitzeugen sind so toll, dass es das alles wert ist.“
Den Zeitzeugen stellt Schulz am Ende immer dieselben vier Fragen: Was bereuen Sie? Was haben Sie noch für Ziele? Was empfehlen Sie jüngeren Menschen? Sind Sie dankbar? Leonhard Michael Seidl würde gern noch einen Bestseller schreiben, um mit seiner Frau tolle Reisen unternehmen zu können. Mehrere Romane hat er schon verfasst – einige spielen, natürlich: in Giesing. Da kennt er sich schließlich aus.
