Interview

Münchner Virologe: "Dieses Virus wird uns erhalten bleiben"

Der Münchner Virologe Oliver T. Keppler glaubt weder an das Konzept von Herdenimmunität noch an einen "Freedom Day" - aber er macht auch Hoffnung.
von  Ralf Müller
Das Coronavirus ist noch lange nicht vorbei, so der Münchner Virologe.
Das Coronavirus ist noch lange nicht vorbei, so der Münchner Virologe. © imago images/Bihlmayerfotografie

München - Oliver T. Keppler (53) ist seit 2015 Lehrstuhlinhaber für Virologie und Vorstand des Max-von-Pettenkofer-Instituts für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie der Münchner Ludwig- Maximilians-Universität. Die AZ hat mit ihm gesprochen.

AZ: Herr Professor Keppler, trotz Sieben-Tage-Corona-Inzidenz auf durchaus hohem Niveau in Deutschland wird immer mehr gelockert. Halten Sie das für richtig?
OLIVER T. KEPPLER: Im vor uns liegenden Herbst und Winter müssen wir von einer deutlichen Verschärfung des Infektionsgeschehens ausgehen. Wir haben aber insgesamt eine gute Impfquote, viele Genesene, eine hochwertige Testinfrastruktur und ein gutes Verständnis der Übertragungswege des Virus. Grundsätzlich müssen wir in dieser Phase der Pandemie in verschiedenen Bereichen Lockerungen versuchen, um zu sehen, was vertretbar ist und wo man noch Hygienemaßnahmen oder Testungen zur Absicherung beibehalten muss. Die Öffnung von Clubs mit 2G oder 3G hat an einigen Stellen bereits zu größeren Ausbrüchen geführt. In Hochrisikobereichen müssen wir sicher noch einmal genauer hinschauen und eventuell Anpassungen vornehmen. Die Dynamik der Pandemie kann uns letztlich aber auch immer wieder überraschen.

"Tag X" widerspricht dynamischem Geschehen

Also noch kein "Freedom Day" in Sicht?
Die Ausgangslage ist jetzt viel besser als noch vor einem Jahr, aber die Pandemie ist nicht vorbei. Pandemische Wellen werden in den kommenden Jahren mit wahrscheinlich abnehmender Wucht kommen und gehen. Das Konzept eines "Freedom Day" macht für mich wenig Sinn. Die Idee eines "Tag X" widerspricht dem dynamischen Geschehen von doch sehr unterschiedlicher Immunität, die wir in unserer Gesellschaft - auch unter Geimpften - haben, aktuell sinnvollen, gestuften Hygienemaßnahmen und natürlich auch den Veränderungen des Virus. Dem trägt man nicht Rechnung, wenn man einen bestimmten Tag herbeiredet, an dem alles vorbei sein soll. Wir müssen längerfristig eine Balance zwischen Infektionsrisiko und der Rückkehr zu mehr Normalität finden. Einen scharfen Schnitt sehe ich da nicht.

Exakte Datenerfassung: Schwachstelle in Deutschland

Wie hoch ist in Deutschland eigentlich die Impfquote? Wissen wir das? Kann man mit dieser Art der Verwaltung von wichtigen Gesundheitsdaten zufrieden sein?
Wir haben in der Pandemie leider gesehen, dass exakte Datenerfassung und Verarbeitung auf verschiedenen Ebenen durchaus eine Schwachstelle in Deutschland ist. Das müssen wir in Zukunft verbessern. Ich halte aber die aktuell kritische Diskussion um die "echte" Impfquote und entsprechende Schuldzuweisungen für überzogen. Es ist schön, dass die Impfquote ein paar Prozent höher zu sein scheint als gedacht, aber mit dieser Zahl steuern wir derzeit ohnehin keine zentralen Maßnahmen im Gesundheitswesen. Das Steuerungsinstrument ist nun primär die Hospitalisierungsrate, bestimmt durch die Zahl der Covid-19-Patienten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen.

Keppler: "Herdenimmunität macht für diesen Erreger wenig Sinn"

Die Impfquote wurde ja als Maßstab für das Erreichen der "Herdenimmunität" eingeführt. Ist das Ziel aufgegeben?
Das Erreichen einer Herdenimmunität für Sars-CoV-2 wurde selten von Virologen als Ziel ausgegeben - das macht für diesen Erreger und seine Erkrankung leider auch wenig Sinn. Es gibt zum Beispiel Erreger wie das Masernvirus, bei dem die Impfung einen 99,8-prozentige Schutz erzielt und der Erreger genetisch sehr stabil ist. Diese Idealsituation haben wir bei Covid-19 und Sars-CoV-2 nicht. Wir haben hier zwar Impfungen, die sehr gut sind und auch besser als viele erwartet haben. Sie bietet Schutz vor einer Infektion von 60 bis 70 Prozent und vor schwerer Erkrankung im Bereich von 90 Prozent. Aber wir haben auch ein genetisch deutlich variableres Virus, das sich effizient optimieren kann und diese "Schutzwerte" auch zu unseren Ungunsten verschieben kann. Auch der Geimpfte kann infiziert sein und auch andere anstecken. Der Prozentsatz der gegen Covid-19 Geimpften in der Bevölkerung muss daher unbedingt so hoch wie möglich sein, aber das Konzept einer Herdenimmunität mit der Erwartung, dass dann alles toll ist und man sich auch nicht mehr impfen lassen muss, wäre eine Illusion. Dieses Virus und seine Erkrankung wird uns erhalten bleiben.

Wie wahrscheinlich ist es, dass noch Virusmutationen auftreten, welche die ganze Strategie über den Haufen werfen können? Ist so etwas in Sicht?
In Sicht nicht, aber möglich. Es gibt zwei Eigenschaft des neuen Coronavirus, die wir sehr genau beobachten: zum einen die Fähigkeit, seine Übertragung von Mensch zu Mensch zu optimieren. Beim ursprünglichen "Wuhan-Virus" hat ein Infizierter im Schnitt zwei bis drei andere infiziert, die aktuelle Delta-Variante infiziert acht ungeschützte Menschen. In der Übertragung ist Delta schon sehr effizient. Die zweite Eigenschaft sind neue Fluchtmutationen des Virus für die Immunität. In diesem Fall verändert das Virus sein Spike-Protein so, dass Impfstoffe nicht mehr so gut schützen oder bereits Genesene wieder infiziert werden. Da geht dann vielleicht auch der Schutz vor schwerer Erkrankung von 90 auf 60 Prozent runter.

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