Münchner schmiss Unternehmerkarriere hin: "Veränderung macht Angst – aber sie lohnt sich"

München - AZ-Interview mit Markus Müller: Der 48-jährige Unternehmer aus München studierte Jura und war nach einer Start-up-Gründung Europa-Chef von Blackberry. 2015 stieg er aus, ließ sich zum Hospizbegleiter ausbilden, betrieb eine Tantramassagepraxis. 2019 gründete er mit anderen die Pflege-App Nui.
AZ: Herr Müller, Sie haben Ihre Arbeit bei Blackberry gekündigt, um Hospizbegleitung und Tantramassage zu machen - eine ungewöhnliche Biografie. Sind Sie ein spiritueller Mensch?
MARKUS MÜLLER: Ja, das war ich schon immer. Ich bin evangelisch getauft und christlich aufgewachsen. Ich habe mich aber auch viel mit Buddhismus beschäftigt und mit anderen spirituellen Richtungen. Ich würde schon sagen, dass ich jemand bin, der über die Fragen des Lebens, wenn man es so sagen möchte, nachdenkt: Warum sind wir hier? Was bedeutet Leben und Bewusstsein eigentlich?
Markus Müller: "Mein Job hat mir Spaß gemacht, aber vieles ist hinten runtergefallen"
Trotzdem haben Sie sich erstmal für eine eher irdische Unternehmerkarriere entschieden. Wie kam es dazu?
Ich habe gegen Ende meines Jurastudiums ein Unternehmen gegründet, das schon damals Software entwickelt hat für mobile Geräte. Dieses Unternehmen habe ich zehn Jahre aufgebaut und dann an Blackberry verkauft. So bin ich zu Blackberry gekommen. Und das fand ich auch durchaus spannend, weil ich vorher nie in so großen Strukturen gearbeitet habe. Mein Unternehmen war 50 Mitarbeiter groß, als Deutschland-Chef bei Blackberry habe ich zunächst ungefähr 800 Leute, als Europa-Chef dann ein paar Tausend Leute geführt.
Und plötzlich wollten Sie nicht mehr?
Mein Job hat mir Spaß gemacht, aber es gab Dinge, die mir in meinem Leben fehlten. Also habe ich mich gefragt: Lebe ich alle Qualitäten, die für mich ein gutes Leben ausmachen? Und habe dann leider für mich feststellen müssen, dass ich eigentlich nur eine Qualität lebe, nämlich die beruflich erfolgreiche Seite. Aber viele andere Dinge sind völlig hinten runtergefallen. Und so kam die Entscheidung zu sagen, ich möchte alle Bereiche leben, die mir wichtig sind.
"Natürlich war das ein Privileg"
Gab es ein Schlüsselerlebnis?
Es war natürlich ein Gefühl, das sich langsam aufgebaut hat. Ich war in London in unserem europäischen Headquarter, habe dort jeden Abend an der Bar gesessen, bin viel rumgeflogen durch Europa. Und da fühlt man sich einfach alleine. Trotzdem gab es auch einen konkreten Moment: Ich habe am Flughafen ein Buch in die Hände bekommen, von dem ich erstmal nur das Inhaltsverzeichnis gelesen habe. Das Buch hieß: "Fünf Dinge, die Sterbende bereuen". Das hat eine Krankenschwester geschrieben, die über 1.000 Interviews mit Sterbenden geführt und sie gefragt hat: Wenn du nochmal leben könntest, was würdest du anders machen?
Wie lauteten die Antworten?
Ich kann mich nur noch an die Top 3 erinnern. Das Erste war: Ich würde gerne das Leben leben, das mir wichtig ist und nicht nur das tun, was andere von mir erwarten. Das Zweite war: Ich hätte gerne weniger gearbeitet. Und das Dritte war: Ich hätte gerne mehr Zeit mit Freunden und Familie verbracht. Als ich das gelesen habe, dachte ich: Wenn ich so weitermache, werde ich genau die gleichen Dinge bereuen auf meinem Sterbebett. Ich habe noch am gleichen Abend die Kündigung geschrieben.
Ein sehr radikaler Schritt - den der ein oder andere sicher auch gerne gehen würde, es aber aus diversen Gründen nicht kann. Empfinden Sie den Sofort-Ausstieg als Privileg?
Natürlich war das ein Privileg. Ich musste mir keine Sorgen um das Finanzielle machen. Ich muss aber auch sagen, dass ich immer auf sehr kleinem Fuß gelebt habe und auch mit dem beruflichen Erfolg meine Fixkosten nie ins Unendliche getrieben habe.
"Ich habe nicht versucht, Ziele zu definieren"
Was würden Sie Leuten raten, die vielleicht auch über einen solchen Schritt nachdenken?
Was ich gemacht habe, ist, erstmal die Vogelperspektive einzunehmen und mich zu fragen: Was ist mir wichtig? Ist mir zum Beispiel eher Freiheit wichtig oder eher Sicherheit? Und daraus habe ich dann versucht, Qualitäten zu definieren. Ich habe nicht versucht, Ziele zu definieren, also sowas wie: "Ich will ein Haus am Meer". Denn ich habe gemerkt, dass man sich, sobald man solche Ziele erreicht, denkt: Naja, jetzt hab ich das zwar, aber so richtig glücklich bin ich auch nicht. Eine solche Veränderung anzustreben, ist natürlich erstmal mit Angst belegt. Und deswegen tun es viele nicht. Aber ich habe festgestellt, dass es sich lohnt.
Haben Sie weitere Tipps?
Ich empfehle, zu gucken: Was gibt es für kleine Schritte, sich diesen Qualitäten anzunähern? Es muss ja nicht immer die Kündigung sein. Es kann ja auch der nächste Karrieresprung sein, auf den man verzichtet. Oder ich verändere mich in eine andere Richtung im Unternehmen, um mehr Zeit zu haben für die anderen Dinge, die mir wichtig sind.
"Ich muss merken, dass ich etwas für mich Sinnvolles tue"
Welche Qualitäten sind Ihnen denn wichtig?
Ich habe für mich fünf Qualitäten definiert. Das erste ist sinnvolles Unternehmertum. Damit ist aber nicht gesellschaftliche Anerkennung gemeint, was man vielleicht bei der Entwicklung der Pflege-App vermuten würde. Vielmehr muss ich merken, dass ich etwas für mich Sinnvolles tue, das mich glücklicher macht, als wenn ich zum Beispiel Autos verkaufen würde. Das zweite ist das Thema Reisen. Das dritte ist das Thema Gemeinschaft, dass man bewusst ein soziales Netzwerk pflegt. Das vierte ist die Hospizarbeit. Das ist einfach ein Herzensthema von mir, die Idee, dass man Menschen menschlich sterben lässt. Und das fünfte ist das Thema Liebe, natürlich ein großes Thema. Aber ich merke, dass wenn ich mich zu stark in den Beruf vertiefe, dieses Thema manchmal ein bisschen zu kurz kommt.
Wenn Sie an Ihr Schlüsselerlebnis am Flughafen zurückdenken: Wie blicken Sie heute auf Ihren Lebensweg?
Rückblickend hätte ich vielleicht ein bisschen früher diese Erkenntnis haben können. Aber da war ich noch nicht so weit. Wenn ich mein Leben mit diesen fünf Dingen lebe - was natürlich mal besser und mal schlechter klappt - kann ich, wenn ich irgendwann im hoffentlich hohen Alter auf dem Sterbebett liege, sagen: Ich habe ein erfülltes Leben gehabt und kann in Frieden gehen.
Das ist die App "Nui": Markus Müller ist Geschäftsführer und Mitbegründer der Nui Care GmbH - diese hat es sich mit der App "Nui" zur Aufgabe gemacht, einen digitalen Assistenten für pflegende Angehörige zu schaffen. In der App gibt es etwa eine Chatfunktion, in der man sich mit der Familie austauschen und Termine teilen kann, einen KI-Assistenten, der Fragen zu Demenz oder anderen Themen beantwortet, sowie einen Ratgeber, der Informationen zu Pflegeleistungen oder zum richtigen Umgang mit den Pflegebedürftigen bietet. In einer Bericht-Funktion kann das Befinden der pflegebedürftigen Person festgehalten und mit der Familie geteilt werden. Die "Nui"-App ist in der Basisfunktion kostenlos für Android und iOS verfügbar, die Premium-Funktion beinhaltet die Option auf einen Live-Chat mit einer Pflegeexpertin und kostet 19,99 Euro pro Monat.