Münchner Projekt Imal: "Wir sind eine Rettungsinsel"

München - Die Halle, das "Laboratorium", ist hell und hoch. Das Lager quillt über von Künstlerbedarf: Tucker und Drähte, Maleranzüge und Lederreste, Styropor, gesammelte Muscheln, Farbtöpfe und allerlei Pinsel.
Federico Motta aus dem Westend hat beim Projekt Imal einen Akt auf große Papierbögen gezeichnet, mit der Nähmaschine gearbeitet und Münchner Kunstmuseen kennengelernt. Ein Jahr lang hat der 21-Jährige in der Imal-Halle im Kreativquartier Kunst machen können.

Das Ergebnis: Von seinem Traumberuf Kunstlehrer hat er sich verabschiedet. Er will Physiotherapeut werden. "Kunst als Beruf ist mir zu stressig, die Abhängigkeit von der eigenen Kreativität ...", meint der junge Mann. "Diese Klarheit habe ich dem Imal zu verdanken. Jetzt fühle ich mich innerlich stabil."
Wer bin ich? Wo will ich hin? Kristin Weber von der Imal-Leitung erklärt: "Wenn diese Frage geklärt ist und die Entscheidung fällt nicht für die Kunst, so ist das ein genauso wünschenswertes Ergebnis unserer Arbeit."
Eine Idee, vor über 20 Jahren gestartet
Vor 23 Jahren war es als Utopie gestartet: das kunstpädagogische Projekt International Munich Art Lab (Imal). Ein Jahr lang machen 50 junge Menschen zwischen 16 und 24 Jahren im Laboratorium Kunst, in einer familienähnlichen Struktur, begleitet von Künstlern und Pädagogen.
Gefördert wird das Projekt von der gemeinnützigen GmbH Kontrapunkt vom Jugendamt und dem Europäischen Sozialfonds.
Die Imal-Halle mit dem Atelier in der Rupprechtstraße als "Akademie" ist eine Münchner Besonderheit mit internationalem Renommee. In keiner anderen Stadt der Welt erhalten künstlerisch talentierte Jugendliche, "die ihr Päckchen zu tragen haben", so ein Sozialpädagoge, ein Jahr lang Vollzeit die Chance zur Berufsorientierung im kreativen Bereich.
Harte Misserfolge und Mobbing-Erfahrungen in der Schule
"Wir sind eine Rettungsinsel und ein kreatives Paradies für talentierte Jugendliche und junge Erwachsene, deren Kraft von unserem starren Schulsystem oft nicht gesehen wird", sagt Kristin Weber vom Imal-Leitungsteam. "Und das, obwohl die Gesellschaft für die Lösung der globalen Probleme Köpfe bräuchte, die anders denken."
Harte Misserfolge und teilweise auch Mobbing-Erfahrungen in der Schule haben die Imal-Teilnehmer hinter sich gelassen. Einige junge Menschen sind zwei Jahre lang ohne Ausbildung, bevor sie zum Imal finden. In einer "lustbetonten, aber ernsthaften Arbeitsatmosphäre", so Weber, werde gemeinsam künstlerisch experimentiert. "Unser Ansatz ist, die Stärken zu sehen, nicht die Defizite."
Drei leere Dosen Red Bull stehen neben Annikas Rechner. Die 22-Jährige hat ihre digitale Mappe für ein Kommunikationsdesign-Studium an der Hochschule München fertig. Sie erzählt: "Das Imal ist krass, es hat mich stark gemacht!" Ausgestattet mit Computer und Programmen wie Indesign, Photoshop und Illustrator konnte sie die Illustrationen für ihre Bewerbung überhaupt erst erschaffen. "Ohne Imal wäre es nicht gegangen. Ich hatte kein Geld für einen Computer. Ein Jahr habe ich als Barista gearbeitet, um Geld zu verdienen."
Nun will sie die Uni Potsdam als Designstudentin haben. "Was für ein Erfolgserlebnis. Meine Mappe hat die volle Punktzahl bekommen!"
"Das Imal hat mir Selbstvertrauen gebracht"
In der offenen Halle im Kreativquartier hat die Stadt früher Straßenlaternen gelagert. Heute gibt es hier eine Siebdruckwerkstatt und ein Schwarz-Weiß-Fotolabor - der Teil der Imal-Halle in der Nähe der Schwere-Reiter-Straße fungiert als das Repaircafé.
Mit 13 Jahren ist Mansour Nassinri (20) alleine aus Afghanistan nach München gekommen. Er interessiert sich für Modellbau und Architektur und bewirbt sich an der Designschule München. "Das Imal hat mir Selbstvertrauen gebracht. Ich bin offener für Neues geworden und fühle mich hier wohl", sagt er.

Davor hatte er bei der Bewerbung für die Gestaltungs-FOS die Prüfung im Zeichnen und Malen nicht bestanden. Jetzt stehen seine Chancen gut. Kristin Weber von Imal sagt dazu: "Es ist wichtig für Jugendliche, scheitern zu können. Und zu sehen: Nach dem Scheitern geht es weiter. Das kann ein Weg sein, ein großer Lernschritt zur eigenen Verantwortung."
Das pädagogische Konzept beinhaltet: Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen machen zu lassen. "Wenn es schief geht, geht es schief. Diese Freiheit ist unbezahlbar", erklärt Kristin Weber. Viele der jungen Menschen bei Imal sind so schulgeschädigt, dass sie keine Schemata ertragen. Bei Frontalunterricht würden sie sofort abschalten.
Profis ermutigen junge Menschen, ihren Horizont zu erweitern
Ein Künstler, der die jungen Leute begleitet, meint: "Viele Sachen sind einfach erreichbar, weil man jeden Tag daran arbeiten kann, so wie hier." Die Profis ermutigen die jungen Menschen, ihren Horizont zu erweitern: große Formate auszuprobieren, Serien zu produzieren - die Dinge anders zu denken. Imal-Gründer Uli Gläss: "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Das ist der Imal-Leitsatz."
Bei Imal reifen die Teilnehmer unter der persönlichen Begleitung von Sozialpädagogen. Es gibt Morgenrunden und Bewerbungsbegleitung. Der Prozess bedeutet: "Sich akzeptieren mit seinen Ecken und Kanten, zu sich zu stehen, seine Nische suchen und seinen Weg," erläutert ein Sozialpädagoge.

61 Prozent der Teilnehmer sind junge Frauen, 44 Prozent haben multinationale Wurzeln, 54 Prozent haben eine abgebrochene Ausbildung. Nach Imal gelingt 95 Prozent ein dauerhafter Einstieg in Ausbildung oder Arbeit. Absolventen werden Buchbinder oder Lichtreklamehersteller, Tätowiererin oder Videoproduzent, Kulturmanagerin oder Kostümbildner.
Die zwei Schienen, die künstlerische und die Pädagogische machen das Projekt einzigartig. Das Betreuerteam weiß: "Imal hat viele Effekte. Alle kommen ein großes Stück weiter."
Eine Werkstatt für Fahrrad und Föhn
Jeden Samstag stellt ein pensionierter Elektriker seinen wackeligen Tisch auf: Darauf inspiziert er defekte CD-Player oder Staubsauger.Eine Dame aus Neuhausen bringt ihren Toaster ins Imal-Repaircafé im Kreativquartier. Das nächste Mal kommt sie mit ihrem Föhn.
Das Spezialgebiet der Reparatur-Werkstatt sind jedoch Fahrräder. Imal-Gründer Uli Gläss und Ehrenamtliche sind mit Energie und Begeisterung bei der Sache. "Man lässt nicht reparieren. Man repariert zusammen", so die Idee. Ein oder zwei Rentner sind immer da. Unterstützer werden gesucht. Schrotträder von Bahnhöfen liefert die Park & Ride GmbH umsonst. Für Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine richtet das Repaircafé die ramponierten Radl kostenfrei her.
Ausgestattet mit Werkzeug für Holz- und Metallarbeiten, kommen an Samstagen zwischen 14 und 18 Uhr bis zu 60 Leute. Das Repaircafé ist Anlaufpunkt im Viertel. Man lernt sich kennen, arbeitet miteinander. "Eine Art zufriedene Gelassenheit liegt in der Luft", so empfindet eine Mitwirkende die Atmosphäre. Das Bild vor der Halle: ein buntes Durcheinander von jungen und alten Menschen aus allen sozialen Schichten. Wer nur auf einen Kaffee vorbeikommen möchte, ist ebenfalls willkommen.
Wegen seines nachhaltigen und ressourcenschonenden Effekts wird das Repaircafé vom Bezirksausschuss Neuhausen-Nymphenburg mitfinanziert. Wer ein kaputtes Gerät hat - oder für ein handwerkliches Projekt Platz benötigt - soll ohne Scheu vorbeischauen, heißt es. Gezahlt wird für die Hilfe: nichts! Das Repaircafé hat eine Spendenbox. "Do it yourself" liegt im Trend. Im anderen Teil der Imal-Halle gibt es zeitgleich das offene Atelier und Workshops: Ob Filzen, Upcycling oder Batiken. Wer einen Workshop in Neuhausen anbieten möchte, schreibt an: info@imal.info.Übrigens: In zwei Hallen, Schwere-Reiter-Straße 2 F/ Dachauer Straße ist Samstag und Sonntag, 16 bis 21 Uhr, die Jahresausstellung der jungen Imal-Künstler aus München zu sehen.