Münchner Priester Wolfgang Rothe: "Der Zölibat ist unmenschlich"

AZ: Herr Rothe, Sie sind selbst Opfer von Missbrauch durch einen Bischof geworden. Warum möchten Sie dennoch katholischer Priester bleiben und sagen nicht: Ich möchte weg von dieser Institution?
WOLFGAN ROTHE: Ich habe mir diese Frage schon öfter gestellt. Es gibt zwei Antworten darauf. Die eine ist: Ich möchte die katholische Kirche und damit meine Glaubensgeschwister nicht diesen machthungrigen Moralisten überlassen, sondern auf eine Veränderung hinarbeiten.
Die zweite Antwort?
Ein gewisser Trotz, ein Trotzdem. Es ist ja auch meine Kirche, sie ist mein Leben. Es gibt vieles an der katholischen Kirche, was ich schätze - Kultur, Kunst, Musik, spirituelle Traditionen bis zum heutigen Gemeindeleben, das ich als sehr bereichernd erlebe.
Das Schreiben Ihres Buches war eine Qual für Sie - so steht es im Vorwort. Warum haben Sie es trotzdem gemacht?
Ich wusste, dass ich dieses Buch irgendwann schreiben werde. Denn es gibt Dinge, die man nicht für sich behalten darf. Der Zeitpunkt des Buches ist auch für mich überraschend gekommen, weil alles noch sehr frisch ist - nämlich die Enttäuschung über die verweigerte Aufarbeitung des Falles. Ich bin jetzt unendlich erleichtert, dass es geschafft ist.

Können Sie über Ihren Missbrauch von damals - 2004 in St. Pölten - sprechen?
Ich kann über das sprechen, was unbestritten ist. Zum einen ist das, dass mir mein damaliger Bischof am Abend des 6. Dezember im Bischofshaus eine Tablette verabreicht hat, die sich später als ein verschreibungspflichtiges Psychopharmakon herausgestellt hat. Es macht sehr schnell süchtig und entfaltet auch sehr starke Wirkungen: muskelrelaxierend, den Willen brechend, hypnotisierend und mehr. Das hat der Bischof zugegeben. Was danach geschah, darüber muss ich schweigen.
Rothe: "Die Kirche hat Strafmaßnahmen angedroht"
Warum?
Das hat mir die Kirche auferlegt - mit der Androhung, dass ich mit Strafmaßnahmen rechnen muss. Ich gebe auch zu, dass es mir nach wie vor schwerfällt, über diese Dinge zu sprechen. Es beschäftigt mich bis heute, ich träume noch davon. Durch das Aufschreiben konnte ich allerdings einen gewissen Abstand dazu gewinnen. Allein das Reden darüber bringt viel. Ich kann allen Betroffenen nur sagen: Redet darüber; es hilft!
Was ist noch unbestritten?
Der Bischof hat über Jahre versucht, mich gefügig zu machen. Zum Beispiel musste ich einen psychiatrischen
Schwulentest absolvieren. Das Wort Schwulentest stammt von mir, aber de facto war es nichts anderes.
Wie muss man sich das vorstellen?
Mir wurden in einem zweitägigen Gutachten bei einem forensischen Psychiater Hunderte Fragen gestellt, alle vor dem Hintergrund der Frage, ob ich homosexuell sei - und wenn ja: ob ich bei der Ausführung meiner priesterlichen Tätigkeit eingeschränkt werden müsse. Was des Weiteren ungeheuerlich ist: ob ich bei der Ausübung des seelsorgerischen Dienstes an Kindern und Jugendlichen eingeschränkt werden müsse. Damit schwingt die Mutmaßung mit, dass eine homosexuelle Person eine Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellen könnte. Das ist unfassbar und ich weiß mittlerweile, dass dieser Vorgang kein Einzelfall ist.
Sie schildern in Ihrem Buch auch die Angst davor, dass Ihnen als Opfer nicht geglaubt wird. Fängt hier schon ein Problem der Aufarbeitung an, dass Opfer als unglaubwürdig abgestempelt werden?
Ich habe lange nicht darüber gesprochen, weil ich damit rechnen musste, dass man mir nicht glauben würde. Es herrschte die Ansicht vor, so etwas ist undenkbar und unglaublich. Genauso wie es bis 2010 undenkbar und unglaublich war, dass sich Bischöfe und Priester an Kindern vergehen. Noch einige Jahre länger war es nicht vorstellbar, dass es auch erwachsene Menschen betrifft.
Rothe: "Die Öffentlichkeit ist mein bester Schutz"
Ihre Abrechnung mit der Kirche ist schonungslos und scharf. Haben Sie keine Angst vor Konsequenzen?
Die Öffentlichkeit ist mein bester Schutz. Tatsächlich habe ich mich weit aus dem Fenster gelehnt und habe mir das im Vorfeld gründlich überlegt. Ich bin zu dem Entschluss gekommen: Die Wahrheit muss auf den Tisch, egal welche Konsequenzen das für mich hat.
Sie schreiben, die Kirche selbst hat den idealen Nährboden für Missbrauch gelegt - wie setzt sich dieser Nährboden aus Ihrer Sicht zusammen?
Er kommt vor allem zustande durch das spezielle Verhältnis der Kirche zu allem, was mit Sexualität zu tun hat. Auf der einen Seite überhöht die Kirche alles Sexuelle und betrachtet es als unglaublich zentral. Auf der anderen Seite tabuisiert sie es. Dadurch entsteht eine Spannung, die sich nur allzu leicht unkontrolliert entlädt. Damit ist der Zölibat nicht die einzige Ursache des sexuellen Missbrauchs, aber ein Risikofaktor. Dasselbe gilt für die Sexualmoral der Kirche insgesamt.
Was fordern Sie?
Wer zölibatär leben möchte, sollte dies unbedingt tun dürfen. Auf der anderen Seite halte ich es für unmenschlich und auch nicht mehr zeitgemäß, jemandem eine solche Lebensführung aufzuerlegen. Wenn man den Zölibat, so wie er im Kirchenrecht formuliert ist, ernst nimmt, wäre genau genommen schon jeder Blick auf eine Person, die einem erotisch anziehend erscheint, ein Zölibatsbruch.
Sie legen nahe, dass für die Kirche ein solcher Bruch nur dann problematisch ist, wenn er öffentlich wird.
Genau richtig. Aus diesem Grund hat die Kirche nicht jeden Zölibatsbruch zur kirchen-rechtlichen Straftat erklärt, sondern nur solche Zölibatsbrüche, die öffentlich erfolgen oder öffentlich werden könnten, weil sie zum Beispiel auch gegen staatliche Gesetze verstoßen.
Wird unter Priestern darüber gesprochen, wenn man einen Partner oder eine Partnerin hat, oder ist es ein offenes Geheimnis, über das man schweigt?
Es ist ein offenes Geheimnis. Ich habe einige Jahre in Rom gelebt und in einem Haus mit vielen Priestern gewohnt - da bekommt man so manches mit. Darüber gesprochen wird überhaupt nicht.
Rothe: "Was er zugegeben hat, war immer unfreiwillig"
Sie haben vorhin schon den "Schwulentest" angesprochen. Sie führen weitere erniedrigende Methoden aus, mit denen solche Geistliche mutmaßlich erkannt werden sollten.
In der Tat hat der besagte Bischof nicht nur mich unter Druck gesetzt, sondern auch andere Personen. Er hat ein ausgefeiltes System an Kennzeichen entwickelt, anhand derer man Homosexuelle angeblich erkennt. Zu diesen Merkmalen gehörte die Vorliebe für die Farben Violett und Rosa, das Bedürfnis, Fotos von sich selbst aufzuhängen, ein bestimmter Geruch - ich habe keinerlei Vorstellung, was er damit meint - und dazu gehörte auch das törichte Klischee, dass man Homosexuelle an einem zu weichen Handschlag erkenne. Das hat der Bischof mehrfach öffentlich geäußert und schriftlich festgehalten.
Und das hatte keine Konsequenzen für ihn?
Er ist mittlerweile im Ruhestand, ist über 80 Jahre alt. Ich habe es nie darauf angelegt, dass er sanktioniert wird. Was ich mir gewünscht hätte, ist, dass er seine Taten eingesteht und um Verzeihung bittet. Was er zugegeben hat, war immer unfreiwillig.
Von Ihrem Fall zu den Missbrauchsfällen allgemein in der Kirche: Wie schätzen Sie die Aufarbeitung ein?
Ich habe insgesamt den Eindruck, dass es in der Kirche durchaus eine Reihe von Leuten gibt, die das Problem erkannt haben. Von der Kirche als Ganzes kann man wahrlich noch nicht sprechen. Ich erlebe immer wieder, dass die Kirche nur auf öffentlichen Druck reagiert. Es wäre viel hilfreicher, wenn die Kirche von sich aus sagen würde, wir übergeben die Aufarbeitung an kirchenunabhängige Personen und stehen dazu, was in unserer Kirche geschehen ist.
Warum tut sich die Kirche so schwer damit?
Die Kirche denkt, ihre Glaubwürdigkeit retten oder wiederherstellen zu müssen. Ich halte das für einen Trugschluss. Es wäre viel glaubwürdiger, wenn die Kirche sagen würde: Wir sind alle nur Menschen mit Fehlern. Wir sind Menschen, die sich alle in einem Punkt nicht unterscheiden: Wir sind alle als sexuelle Wesen von Gott geschaffen, und das muss nicht reglementiert oder tabuisiert werden. Zum anderen würde es der Kirche gut zu Gesicht stehen, wenn sie sagen würde: Ja, es sind schlimme Taten in unserem Umfeld passiert - Taten, bei denen es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern Taten, die systemischen Ursprungs sind, die von den Strukturen und der Sexualmoral der Kirche begünstigt wurden. Das erste Ziel der Kirche sollte meiner Meinung nach nicht ihre Glaubwürdigkeit sein, sondern Gerechtigkeit gegenüber denjenigen zu üben, denen Unrecht geschehen ist.
Rothe: "Es hat 15 Jahre gedauert, bis ich die Kraft gefunden habe, darüber zu sprechen"
Was wäre Ihr Ideal, zu dem die Kirche kommen sollte?
Die Kirche müsste sich an ihr eigenes Ideal zurückbesinnen. Auf der einen Seite ist das ein Satz, den auch Jesus gebraucht hat: Fürchtet euch nicht! Habt keine Angst vor eurem Dasein, vor eurer Menschlichkeit und schon gar nicht vor Gott. Die zweite Botschaft, die Jesus gelebt hat: die der Freiheit. In der Kirche wird das aber eher als Bedrohung gesehen. In meinem Buch formuliere ich provokativ: Mein Ideal von Kirche wäre verwirklicht, wenn eine katholische Priesterin ein schwules Paar im Tridentinischen Ritus traut und niemand sich aufregt.
In Ihrem Buch bekennen Sie auch, dass sie selbst schuldig sind. Warum?
Tatsächlich habe ich Schuld auf mich geladen, weil ich viel zu lange geschwiegen habe. Es hat 15 Jahre gedauert, bis ich die Kraft gefunden habe, darüber zu sprechen. Schon zuvor habe ich zu Themen wie der kirchlichen Sexualmoral geschwiegen, weil ich intuitiv wusste, dass hier einiges schief läuft, aber ich habe keine Stellung dazu bezogen. Ich war sehr autoritätsgläubig und meinte, die Kirche wird schon Recht haben. Aber wer schweigt, stimmt zu.
Können Sie den Schritt von Kardinal Marx nachvollziehen, der Verantwortung übernehmen wollte und seinen Rücktritt angeboten hat?
Ich habe allergrößten Respekt davor. Ich würde mir wünschen, dass andere Bischöfe die gleiche Kraft aufbringen, denn es gibt sicherlich Bischöfe, bei denen dieser Schritt dringender geboten wäre als bei Kardinal Marx.
Bischof Voderholzer hat vor wenigen Tagen eine Gegeninitiative zum Synodalen Weg gestartet. Was sagen Sie dazu?
Das überrascht mich gar nicht. Es war von Anfang an abzusehen, dass es eine deutliche Mehrheit gibt, die eine Reform in der Kirche befürworten. Nachdem Bischof Voderholzer erkennen musste, dass er mit seinen Positionen nicht durchdringt, hat er sich ein paralleles Forum geschaffen. Ich halte das für spalterisch und kontraproduktiv.
Werden Sie von anderen Priestern für Ihre Positionen angefeindet?
Ich bekomme sehr viel Zuspruch, aber auch Anfeindungen. Die meisten Priester allerdings schweigen.
Rothe: "Mein Buch ist definitiv keine Einschlaflektüre"
Können Sie Gläubige verstehen, die sich angesichts der Missbrauchsfälle von der Kirche abwenden?
Ja, ich kann das sehr gut verstehen.
Was möchten Sie diesen Menschen sagen?
Meine Botschaft an alle, die mit einem Austritt ringen: Bitte helft uns, in der Kirche an Veränderungen zu arbeiten und dafür zu sorgen, dass diese Kirche nicht den machtlüsternden Personen überlassen bleibt.
Wer sollte Ihr Buch am besten lesen?
Am liebsten wäre es mir, alle Katholiken würden es lesen. Aber ich muss dazu sagen: Mein Buch ist definitiv keine Einschlaflektüre.
Dr. Dr. Wolfgang F. Rothe: Missbrauchte Kirche. Eine Abrechnung mit der katholischen Sexualmoral und ihren Verfechtern; Droemer Knaur; 20 Euro.