Münchner Paradieserl: Zu Besuch in der größten Land-WG der Stadt

München - Ein Gockel und vier Hühner wackeln zwischen den Schuppen herum. Unterm Haselnussbaum räkeln sich zwei Katzen. Hinten im Gemüsebeet sprießen schon Tomaten- und Salatpflänzchen, und das Freiluft-Rattansofa am Grillplatz wird in Kürze belagert sein. Es ist ja Sonntag, ein sonniger, und fast alle sind zuhause.
Alle? Man kommt mit dem Zählen kaum hinterher, als die Männer, Frauen und Kinder herbeiströmen, um sich für ein gemeinsames Foto zu versammeln. Sie kommen aus der Werkstatt und aus der Küche, vom großen Beet, das gerade neu eingefasst wird, vom Spaziergang um die Felder hinterm Haus und vom Badetümpel, ein Stückerl dahinter.

14 Mitbewohner teilen sich die WG
Wie viele seid ihr? Man schaut sich an, guckt ein bisserl ratlos, zählen wir die Wochenendkinder mit? Und den, der gerade nur zu Gast ist, aber als Ex-Mitbewohner quasi zum Inventar gehört? Gelächter. Man einigt sich auf 14. Vier Männer, acht Frauen, dazu die Kinder. Willkommen also in der größten Land-WG der Stadt.
Die lebt, so könnte man sagen, das Leben, von dem gerade jetzt viele Münchner träumen, die in kleinen balkonlosen Wohnungen pandemieeinsam sind: im Grünen mit eigenem Gemüseanbau und Bio-Eiern, Baumhaus und ausbaubarem Wohnwagen und jeder Menge Material in den Schuppen, aus dem sich Dinge bauen lassen.
1.500 Quadratmeter mit zwei Nachkriegshäusln und alten Bäumen
Jeweils sechs WG-Mitglieder teilen sich eins der beiden Nachkriegshäusl, die auf dem 1.500 Quadratmeter großen Grundstück mit alten Apfel- und Birnbäumen und Sommerfliedern liegen. Die Zimmer sind einfach, die Bäder auch, und wer's warm haben will, muss Holz reinholen.

Aber es ist nicht irgendwo draußen im Münchner Hinterland, sondern auf Stadtgebiet - zu Mini-Mieten. Wer die Wohngemeinschaft nicht kennt (deren Ort wir bitte nicht in die Zeitung schreiben sollen), würde nie zufällig hier hingeraten, weil nur ein Schotterweg durch Felder zu der versteckten Minisiedlung führt.

Wie kann es sein, dass so ein kleines Münchner Paradieserl nicht längst entdeckt und weggentrifiziert worden ist? Hans (53), ein Münchner Zimmerer, und Barbara (54), eine Sozialpädagogin, lächeln da weise, sie wohnen am längsten hier, seit 25 Jahren nämlich.
Früher war hier eine Schwarzbausiedlung
Die Ansammlung von Häusln sei mal eine Schwarzbausiedlung gewesen, die legalisiert worden ist. Beide waren damals Mieter hier. Und weil sie nicht wegziehen wollten, als die paar Grundstücke plötzlich zum Verkauf gestanden sind (aber allein auch nicht das Geld hatten, zu kaufen), hat das Paar mit Freunden einen Verein gegründet.
Der hat 2008 mit einem Kredit die zwei Häusl samt Grundstück erstanden, zu einem Spottpreis, verglichen mit den Grundstückspreisen von heute. War ja keine so angesehene Wohngegend, sagt Hans.
Jeder der einzieht, wird Teil des Vereins
Die Idee von damals gilt noch heute: Jeder, der mit einzieht, tritt dem Verein bei, zahlt wenig Miete, aber hilft beim Herrichten von Häusln und Garten, möglichst "hierarchiefrei".
Während die einen die Elektrik legen, helfen andere beim Dachdecken, jäten Unkraut oder ziehen Tomaten. Man kocht zusammen in den zwei Gemeinschaftsküchen, schützt die Natur und verhält sich nachhaltig. Und wie das alles im Detail organisiert wird, bespricht man alle zwei Wochen in einem WG-Plenum.
Es ist ein Gegenmodell zur Vereinzelung, zum privaten selber Häuslbauen, sagt Hans, und nach einer kleinen Pause sagt er noch: Es dauert bloß länger.
Auch deshalb dauert's wohl, weil gemeinsam in einem Sonneneckerl sitzen und kreative Pläne schmieden manchmal schöner ist als Dachrinnenreinigen.
Junger Neuzugang für die Wohngemeinschaft
Gerade sitzt da Michi (23), die Soziale Arbeit studiert, zusammen mit Natalie (18) und Amelie (20), die sich bei den Umweltschützern von Greenpeace kennengelernt haben. Die Drei, samt Hund Amigo aus einer Tierrettung, sind die jüngsten Neuzugänge in der WG.

Sie sei hier hereingeplatzt und überwältigt gewesen, sagt Natalie, "hier ist man nie einsam, und hier bekommt man so viele Ideen". Gerade sprachen sie übers Lebensmittelretten, "wir können damit die ganze riesige WG ernähren".
Jeder hilft in der Gemeinschaft mit
Derweil zerrt Lisa (32) gerade Bretter aus einem Verschlag, sie ist Kostüm- und Bühnenbildnerin, kann mit Holz umgehen und will aus einem Schuppen vorm Eingang einen Wintergarten mit Schiebetüren bauen. Vor zehn Jahren hat sie schon mal in der WG gewohnt, damals noch in einem Bauwagen im Garten.

Jetzt ist sie wieder da und hat das Zimmer neben der Küche bezogen, in dem Hans und Babsis Tochter Paula (heute 19) zur Welt gekommen ist. "Aufstehen und hören, dass in der Küche schon was los ist", sagt sie, "das macht mich froh, jeden Morgen."
Man könne hier überhaupt nicht schlecht draufkommen, erzählt auch Michi, "weil dich immer Leute aus dem Zimmer holen". Zum Kochen für alle, die ganze Bandbreite zwischen Lasagne, Indisch und japanischem Eintopf.
Zum Grillen am Feuer und zum Musizieren. Im Wohnzimmer stehen ein Klavier, eine Gitarre, eine Ukulele und eine Geige. Sogar ein Schlagzeug gibt's im Haus, oben, wo Charly wohnt, die Schreinerin ist.
Mit Alex (51) ist noch ein Sänger und Bandgitarrist an Bord, er hat vor fünf Jahren eigentlich nur einen Stellplatz für seinen Zirkuswagencamper gesucht, bevor er einfach ganz geblieben ist.
Was man braucht, um so lange hier wohnen zu bleiben, sogar mit zwei Kindern, die jedes Wochenende kommen? "Viel Geduld", sagt er lachend, "Toleranz, Lässigkeit und bloß keinen Ordnungszwang."
Die Chemie muss stimmen
Und die Chemie, sagt Vereinsgründerin Barbara, muss stimmen. Bei zwölf Erwachsenen jeden Alters sei es schon hilfreich, wenn jeder jeden gut leiden kann. "Wer nur Billigfleisch kauft", erklärt sie, "wer jeden Meter mit dem Auto fahren muss und sich nicht am Zusammenhelfen beteiligt, der passt nicht wirklich gut zu uns."
40 Bewerber gab es für das freie Zimmer
Neulich ist wieder ein Zimmer frei geworden, weil die 19-jährige Paula für ein freiwilliges soziales Jahr nach Afrika will. An die 40 Leute haben sich beworben, zehn wurden eingeladen. Und dann war die WG sich schnell einig. Sie hat die junge Frau ausgewählt, die am längsten am Grillfeuer sitzen geblieben ist, Sandra (23), angehende Psychologin.
Jetzt planen sie für ein Sommerfest mit ein paar Freunden und alten WG-Genossen, sobald man wieder darf. Und was, wenn es diesen Sommer nicht mehr klappt? Nicht schlimm. Das Rattansofa am Grillplatz wird auch so belagert sein.