Münchner mit Kindern überfordert: Erziehungskurse?
Jedes fünfte Grundschulkind ist "schwer beschulbar", weil Mütter und Väter mit der Erziehung überfordert sind, meinen Lehrer-, Elternverbände und Mediziner. Und fordern Seminare schon vor der Geburt.
München - Ein Sechsjähriger donnert seinen Kopf auf die Schulbank, vergräbt sein Gesicht hinter seinen Armen und heult: „Dann mach ich halt nicht mehr mit!“ Der nächste plärrt wütend von hinten: „Hey, ich bin auch noch da, ich will auch was sagen!“ Während ein dritter trotzig seinen Stuhl umwirft, aus dem Klassenzimmer rennt und die Tür hinter sich zuknallt.
Alltags-Wahnsinn an Münchner Grundschulen: In jeder Klasse kämpfen Lehrer mit durchschnittlich sechs kleinen Buben und Mädchen, die massiv verhaltensauffällig sind, sagt Lehrerverbandspräsident Klaus Wenzel, der selbst Jahrzehnte unterrichtet hat. „Jedes fünfte Grundschulkind ist heute therapiebedürftig – und schwerst beschulbar.“
Ein Trend, der zunehmen wird, da sind sich Pädagogen und Psychologen einig. „In den 70er Jahren hatte die Schule eine familienergänzende Funktion“, sagt Wenzel. „Heute ist sie Familienersatz, weil viele Kinder zuhause nicht mehr erzogen werden. Ihren Müttern und Vätern mangelt es schlichtweg an Erziehungskompetenz.“ Die Folge: Die Kinder kommen immer öfter ohne die nötige Grunderziehung in die Kita und in die Grundschulen.
Jetzt will der Bayerische Elternverband (BEV) Ernst machen – mit Schützenhilfe vom Lehrerverband (BLLV) und Medizinern: Sie fordern einen Eltern-Führerschein, kostenlos für alle bayerischen Mütter und Väter, bei denen das erste Kind unterwegs ist.
„ELFE“ haben sie das Projekt genannt, das steht für: „Eltern lernen früh erziehen“. „Für Hundehalte gibt es Hunde-Führerscheine“, argumentiert der Kinderpsychiater Dr. Karl Heinz Brisch von der Haunerschen Kinderklinik. „Kein Mensch würde jemanden ins Auto steigen lassen, der vorher nicht eine Anleitung zum Fahren bekommen hat. Warum also sollen Eltern ohne Anleitung erziehen?“
Warum klappt Erziehung nicht mehr?
Eine Großfamilie unter einem Dach? Gibt’s kaum noch. Viele junge Leute haben kaum noch erfahrene Ältere in der Nähe, die sie fragen können. Zudem: Früher waren Eltern autoritär, haben ihre Kinder geschlagen, um sie zu disziplinieren. Dann stand „brav, folgsam, willig“ im Zeugnis.
„Heute wollen wir keine Kinder mehr, die nur funktionieren“, sagt Kinderpsychiater Brisch. „Heute sollen Kinder selbstbewusst, kreativ, neugierig und teamfähig sein. Dafür braucht es feinfühlige Eltern, die ihr Kind nicht nur führen, sondern auch verstehen wollen.“ Stattdessen: Klagen immer mehr Lehrer, dass heute schon die zweite Generation von nicht erzogenen Kindern in den Grundschulen sitzt.
Was machen Eltern falsch?
Aus der Sicht von Lehrer Klaus Wenzel gibt es unter den verhaltensauffälligen Kindern zwei Typen: Die einen werden von ihren Eltern überbehütet, bekommen daheim jeden Wunsch erfüllt, keine Grenzen gesetzt, haben nicht gelernt, sich für irgendetwas anstrengen oder kämpfen müssen.
Die anderen sind zuhause allein gelassen, vernachlässigt, lernen sehr schnell, dass keiner kommt, wenn sie rufen. Und werden kaum kreativ beschäftigt. „Kleinkindern vorlesen, gemeinsam malen, singen – das findet in vielen Familien nicht mehr statt.“
Dabei klärt sich gerade in den ersten drei Lebensjahren, ob Kinder eine tiefe Bindung, ein Urvertrauen entwickeln: „Nur, wenn dieses Gefühl tief verankert ist, wird sich ein Kind rundum gut entwickeln“, sagt der Kinderpsychiater: „Es kann dann Grenzen einhalten, sich einfühlen, ist stresstoleranter, sprachbegabter, kreativer, flexibler bei der Lösung von Aufgaben und es weiß, wo es Hilfe findet, wenn es Hilfe braucht.“
Welche Folgen hat Erziehungsmangel für die Kinder?
„Überbehütete Kinder klinken sich oft aus, wenn sie Frust haben, und verweigern die Mitarbeit“, sagt Wenzel. Dazu kommt: „Wer zuhause keine Konsequenzen erfährt, wird auch in der Schule nicht glauben, dass Lehrer Konsequenzen ziehen.“ Vernachlässigten Kindern fehlt ein gesundes Selbstwertgefühl. „Viele verhalten sich laut und trotzig, können sich in keine Gruppe einfügen, haben nicht gelernt, mit Argumenten etwas zu erreichen.“ Aber wer sich in der Schule nicht an Regeln hält, Lernen verweigert, die Klasse stört, versagt oft beim Schulabschluss – und bei der Jobsuche. Keine gute Ausgangsbasis in ein glückliches Erwachsenenleben.
Wie sollen die Kurse aussehen?
Ein Erziehungskurs soll laut BEV-Plan zehn ganze Tage umfassen. Vier vor der Geburt, sechs danach, im Abstand von mehreren Wochen. Dabei soll’s nicht nur um Grundlagen gehen wie „richtig stillen“ oder „wickeln“, sondern um die Fähigkeit, die Bedürfnisse eines Babys zu erkennen und Grenzen weder zu weit noch zu eng zu stecken.
Eltern sollen auch dabei gefilmt werden, wie sie mit ihrem Kind umgehen. Danach wird analysiert, was man besser machen kann – ähnlich wie beim Konzept der „SAFE“-Kurse für Eltern, die der Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch schon vor Jahren entwickelt hat. Zu jedem Kurs soll es – als weiteren Anreiz – eine Babyausstattung geschenkt geben (100 bis 150 Euro) – gesponsert von Unternehmen.
„Wir wünschen uns, dass die Kurse während der Schwangerschaft starten“, sagt Elternverbands-Chefin Maria Lampl. „Das ist die Zeit, in der Eltern am meisten motiviert sind, alles richtig zu machen – und in der sie am meisten Zeit haben.“
Wer kann teilnehmen?
Alle Eltern, die ihr erstes Kind erwarten. Also nicht nur die, die der Staat als hilfsbedürftig definiert (wie bei den „Frühen Hilfen“ des Sozialministeriums). Was wären die Kosten?
21 Millionen Euro müsste der Freistaat für ein solches Programm pro Jahr hinlegen, kalkuliert Maria Lampl – bei rund 105 000 bayerischen Geburten pro Jahr (und je 200 Euro pro Kurs). „Jeder Cent wäre gut investiert, weil der Staat später einen großen Teil der vier Milliarden Euro jährlich sparen würde, die er für die Jugendhilfe ausgeben muss.“
Nun ist das Sozialministerium gefragt. Man darf gespannt sein.
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