Münchner Jahre: Vor 120 Jahren zog Lenin nach Schwabing

Am 6. September feiert der Verein Russisches Zentrum in der Seidlvilla den 150. Geburtstag von Lenin. Vor genau 120 Jahren hatte sich der Revolutionär an der Isar niedergelassen.
von  Karl Stankiewitz
Im September 1900 zog Lenin in die Münchner Kaiserstraße.
Im September 1900 zog Lenin in die Münchner Kaiserstraße. © imago images / United Archives International

München - Am 7. September 1900 bezieht ein gedrungen wirkender Herr mit schütterem Haar und Spitzbart, der gut Deutsch mit russischem Akzent spricht, in der vornehmen Münchner Kaiserstraße, Hausnummer 53 (heute 45) ein möbliertes Hinterhofzimmer.

Kaiserstraße 46: Hier hat Lenin in seiner Münchner Zeit gewohnt.
Kaiserstraße 46: Hier hat Lenin in seiner Münchner Zeit gewohnt. © Thomas Stankiewitz

Es gehört einem sozialdemokratischen Genossen, Georg Rittmeyer, der unten das Wirtshaus "Zum Goldenen Onkel" betreibt.

Der Untermieter nennt sich Meyer, ein Vorname wird nie bekannt. Tatsächlich heißt er Wladimir Iljitsch Uljanow, geboren in Simbirsk, wo er eine Volksschule geleitet hatte.

Nach einer dreijährigen Verbannung in Sibirien ist der promovierte Jurist auf Umwegen über die Schweiz in München angekommen.

Lenin ärgert sich über Mehlspeisen und "Schmutzwetter"

In der aufgeblühten Prinzregentenstadt erwartet den Anti-Monarchisten ein liberales Klima, das (nach Recherchen des Stadthistorikers Willibald Karl) bereits Tausende seiner Landsleute an die Isar gelockt hat: reiche Dauertouristen, geniale Künstler wie Wassily Kandinsky, Literaten, Verbannte, entflohene oder entlassene Häftlinge und etwa 600 Studenten.

Dazu noch jede Menge Revolutionäre sowie Spitzel der zaristischen Geheimpolizei Ochrana.

Der neue Migrant, den das neue Jahrhundert nach München geführt hat, fühlt sich in solchen Kreisen heimisch. Er ärgert sich zwar über das "Schmutzwetter" und die häufigen Mehlspeisen, die ihm sein fürsorglicher Wirt zubereiten lässt, doch freut er sich - in Briefen an die Mutter - über die Münchner, die sich "öffentlich auf den Straßen amüsieren".

In München legt er sich den Tarnnamen "Lenin" zu

Selber amüsiert er sich über die "ungewöhnliche Umgangssprache", die er nicht mal bei öffentlichen Reden versteht. Lieber büffelt er Englisch als Bairisch. Jeden Tag sitzt er in der Staatsbibliothek. Außerdem arbeitet Herr Meyer an der Weltrevolution. Deshalb legt er sich einen weiteren Tarnnamen zu: N. Lenin.

Am 14. April 1901 kommt seine Lebensgefährtin und spätere Ehefrau aus Petrograd (St. Petersburg) verabredungsgemäß nach. Nadeshda Krupskaja, Tochter eines adligen Zaren-Offiziers gefällt es aber in der Kaiserstraße mit dem "ärmlichen Tisch" und dem Fenster zum Hinterhof ganz und gar nicht.

Das Paar bezieht daher eine Dreizimmerwohnung in der Siegfriedstraße 14. Hier rasiert der bislang illegale Flüchtling seinen inzwischen polizeibekannten Spitzbart ab und meldet sich, da den beiden Russen die Abschiebung droht, endlich als angeblicher Bulgare bei der Polizei an: als Dr. Jordan Jordannoff, gebürtig in "Sophia".

Siegfriedstraße 14: Hier wohnte Lenin nach seiner Zeit in der Kaiserstraße.
Siegfriedstraße 14: Hier wohnte Lenin nach seiner Zeit in der Kaiserstraße. © Thomas Stankiewitz

"Man muss träumen können"

In der neuen Wohnung wird ein Zimmer - im dritten wohnt Lenins Schwiegermutter - als Redaktionsbüro einer neuen Exil-Zeitung eingerichtet. Titel: "Iskra" - Funke. Dieser soll nach Russland hinein zünden, soll das Zarentum in Brand und Asche legen.

Lenin, inzwischen Wortführer eines russisch-deutschen Verschwörer-Zirkels, ist Chefredakteur und Chefideologe. Sein engster Mitarbeiter ist Julius Martow, der eine eher gemäßigte Umsturz-Politik vertritt und so in die Minderheit ("Menschewiki") gerät. Lenin erobert mit seinen radikalen Ideen die Mehrheit ("Bolschewiki").

Pausenlos werden Schlagworte des Kampfes gegen die kapitalistische Weltordnung hinausposaunt: Kader-Herrschaft, Avantgarde des Proletariats, Arbeiter- und Bauern-Paradies. Lenin schreibt aber auch: "Man muss träumen können."

Eine Attentäterin als Vorbild

Kampfanweisungen, Theorien und Utopien publiziert der Wahlbürger von "Wahnwoching" (wie die extravagante Gräfin Franziska Reventlov dieses Schwabing bezeichnet) meist in seinem Hauptwerk, das ebenfalls in München entsteht: "Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung".

Sechs Personen bilden das Führungskader, weitere Personen, auch Rosa Luxemburg, nehmen an Diskussionen teil, die in einem Bierkeller stattfinden. Das Idol der illegalen Bewegung aber ist Wera Sassulitsch, sie hat ein Attentat auf den Petersburger Stadtkommandanten verübt.

Der Journalist Alexander Parvus aus Minsk, der als Miterfinder der "permanenten Revolution" gilt, stellt seine Wohnung in der Occamstraße 1 zur Verfügung. Als geheimes Hauptquartier der Untergrundbewegung. Auch der brenzliche "Funke" wird jetzt hier redigiert. Ganz nebenbei: In diesem Haus, Ecke Wedekindplatz, hat kürzlich ein von Sanierung bedrohter Rentner einem Investor erfolgreich Widerstand geleistet.

Ausgedehnte Spaziergänge im Englisch Garten und den Isarauen

Gedruckt wird in Leipzig, denn dort gibt es kyrillische Lettern. Den Vertrieb organisiert der Münchner Arzt Dr. Carl Lehmann, ein Freund August Bebels. Der gefährliche Schmuggel über etliche Grenzen bis nach Russland erfolgt in doppelbödigen Koffern oder eingenäht in Mänteln.

Lenin liebt die Natur. Bei langen Spaziergängen im Englischen Garten und in den Isarauen oder bei Opernbesuchen erholen sich die "Jordanoffs" von der aufregenden, konfliktreichen und sicher nicht ungefährlichen Untergrund-Arbeit. Unterwegs darf freilich keinesfalls über Politik geredet werden.

Als in München erneut ein Zugriff der Politischen Polizei droht, wechselt der ganze Kader im April 1902 komplett zunächst nach London, mit Filialen in mehreren Ländern. Das Mobiliar wird für zwölf Reichsmark verhökert.

Deutsche Regierung zeigt Interesse an Hilfe von Lenin

Nach der russischen Februarrevolution von 1917 will der inzwischen in der Schweiz ansässige Lenin unverzüglich nach St. Petersburg reisen, um die sozialistische Übergangsregierung zu stürzen. Wieder hilft ihm sein Genosse Parvus, der in seinem weißrussischen Schtetl noch Israil Lasarewitsch Helphand hieß und ein abenteuerliches Leben führte: als Vertrauter von Trotzki, Gorki und Bebel, als Querdenker in der deutschen Sozialdemokratie, die ihm schließlich ebenso misstraut wie die Lenin-Gruppe, als Zeitungsmacher und Waffenhändler. Sogar als Berater des türkischen Reformers Kemal Atatürk schreibt sich Parvus in die Revolutionsgeschichte ein.

Dieser weit vernetzte Tausendsassa hat auch gute Beziehungen zum Auswärtigen Amt in Berlin.

Und tatsächlich: Die deutsche Regierung ist an einer "Hilfe" des pazifistischen Lenin sehr interessiert, sie setzt auf einen Waffenstillstand an der Ostfront. Deshalb organisiert man dessen legendäre, die Welt verändernde "Heimreise".

Konzertagent spendiert Lenin-Gedenktafel

In einem Waggon der Reichsbahn gelangt Lenin mit seinen engsten Mitarbeitern von Zürich aus quer durchs Deutsche Reich in die unruhige Hauptstadt der neu installierten Russischen Republik.

In der Hauptstadt des ebenfalls neu geborenen Freistaates Bayern indes erinnert man sich an den einstigen Wahlmünchner, der die Weltgeschichte mitbestimmt hat, erst wieder im Februar 1968.

In dem Jahr also, als überall und besonders an den Hochschulen allerlei marxistische, maoistische, trotzkistische und erst recht leninistische Oppositions- und Rebellengrüppchen hochaktiv werden.

Es ist jedoch kein Exponent einer lautstarken Kommune, sondern ein Konzertagent, der plötzlich eine Gedenktafel für den längst einbalsamierten Urvater der roten Revolution spendieren möchte. Dieser Lothar Bock macht nämlich gute Geschäfte mit Tourneen sowjetischer Künstler durch die BRD.

Diese Gedenktafel ließ Lothar Bock in der Kaiserstraße (heute Haus Nr. 56) anbringen.
Diese Gedenktafel ließ Lothar Bock in der Kaiserstraße (heute Haus Nr. 56) anbringen. © Thomas Stankiewitz

Gedenktafel wird immer wieder beschädigt

Bock lässt die vom Bildhauer Karl Oppenrieder gefertigte Tafel nicht in der Siegfriedstraße (der Hausbesitzer hat was dagegen), sondern in der Kaiserstraße, jetzt Haus Nr. 56, anbringen. Löwenbräu hat nichts dagegen.

Und während bei der Enthüllung am 12. April 1968 gut 70 Mitglieder des berühmten Balalaika-Orchesters aus Moskau sowie die Roaga Buam aus Ismaning noch aufspielen, wird rundum heftig protestiert: "Lenins Werk ruht auf den Gebeinen von 48 Millionen hingeschlachteten Opfern" und "Kaliningrad wird wieder Königsberg". Schon im August versuchen Unbekannte, die mannshoch angebrachte Tafel wegzusprengen. Später wird sie immer wieder beschmiert.

Am 7. Dezember 1970 fällt die Steinplatte schließlich dem nächsten Sprengstoffanschlag zum Opfer. Die NPD jubiliert, die Ermittler gehen von einem Einzeltäter aus. Die stark beschädigte Platte verwahrt der Hausbesitzer im Keller. Für eine neuerliche Kennzeichnung findet sich in der Eigentümerschaft keine Mehrheit.

Eigentlich wäre es an der Zeit, meint die junge Dame im hübschen Schreibwarenladen von Nr. 46, wenn das Haus wieder in seinen historischen Kontext käme. Bloß - danach schaut's freilich gerade nichts aus.

Zum 150. Geburtstag Lenins veranstaltet das Zentrum für russische Kultur in München (MIR) einen Vortrag mit musikalischer Umrahmung am 6. September in der Seidlvilla (Nikolaiplatz 1b). Beginn 19 Uhr, Eintritt 8/10 Euro, Anmeldung erforderlich unter kulturzentrum@mir-ev.de oder Telefon (089) 351 69 87.

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