Münchner Infektiologe über Herdenimmunität: "Ich bin zuversichtlich"

München - AZ-Interview mit Christoph Spinner: Der Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie ist Pandemiebeauftragter im TU-Klinikum rechts der Isar.

AZ: Herr Doktor Spinner, es gibt immer wieder Meldungen über weitere Coronavirus-Mutanten: brasilianische, südafrikanische, indische. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass wir hierzulande eine Mutation bekommen, die ebenso dominant wird wie die britische?
CHRISTOPH SPINNER: Neue Varianten als Folge von Mutationen sind bei Viren völlig normal. Als besorgniserregend gelten Sie im Kontext Covid-19 erst dann, wenn gesicherte Erkenntnisse für eine deutlich schnellere Verbreitung und/oder eine höhere Sterblichkeit existieren. Beides ist derzeit etwa für die indische Variante B1.617 noch nicht belegt. Dennoch besteht auch in Deutschland bei anhaltend hohen Infektionszahlen die Möglichkeit, dass neue Varianten auftreten. Diese Wahrscheinlichkeit sinkt, wenn die Neuinfektionszahlen bei guter Schutzwirkung von Covid-19-Impfungen zurückgehen.
Infektiologe über Inzidenzwerte: "Aus meiner Sicht ist der Diskurs wichtig"
Halten Sie es für realistisch, dass in Deutschland die Herdenimmunität im Spätsommer erreicht wird?
Da wir in Deutschland sehr viel mehr Impfstoff bis zum Sommer geliefert bekommen werden, bin ich zuversichtlich, dass dieses Versprechen eingehalten werden kann. Garantien gibt es freilich nicht.
Unter anderem die Staatsregierung hält am Inzidenzwert fest. Es gibt Vorschläge, andere Kriterien heranzuziehen. Wie sehen Sie das?
Durch die zunehmende Immunisierung der Personen mit Risiko für einen schweren Verlauf sind die Todeszahlen signifikant zurückgegangen. Obgleich jetzt die Neuinfektionszahlen nach Modellen fast auf dem Höhepunkt der zweiten Welle sind, und derzeit vor allem die hohe Intensivauslastung ein Problem darstellt, ist der Diskurs um die Inzidenzwerte aus meiner Sicht wichtig. Eine sinnvolle Ergänzung könnte künftig die Intensivbettenbelegung sein.
Vor Herdenimmunität: "Einhaltung von AHA-Regeln ist unausweichlich"
Inwieweit ist inzwischen klar, dass Menschen, die eine Erkrankung durchgemacht haben, sowie solche, die vollen Impfschutz erreicht haben, nicht mehr infektiös sind?
Genesene verfügen sehr wahrscheinlich mehrere Monate nach Erkrankung über Immunität, wobei die Erkrankungsschwere mit höheren Antikörper-Spiegeln einhergeht. Hierbei könnten auch Virusvarianten Auswirkungen auf schlechteren Schutz haben. Vollständiger Impfschutz wird etwa vierzehn Tage nach der zweiten Impfung erreicht, wobei dann ein sehr hoher Schutz vor schwerem Covid-19 einhergeht, zudem auch ein hoher bis sehr hoher Schutz vor Infektion und Übertragung.
Also können diese Menschen auf AHA-Regeln verzichten?
Vor Erreichen der Herdenimmunität ist die Einhaltung von AHA-Regeln unausweichlich. Bedenken Sie, dass die Schutzwirkung nach der ersten Impfung frühestens nach sieben bis zehn Tagen einsetzt und nach etwa zwei bis drei Wochen bei 50 bis 80 Prozent liegt.