Münchner helfen: „Ich dachte, ich will sterben“

Nach einem schweren Unfall kann Zerrin Vaizoglu nicht mehr gehen. Jetzt wünscht sie sich ein „Handbike“, umselbstständiger zu werden. Die Geschichte der 20-Jährigen.
von  az
Zerrin Vaizoglu kann nach einem schweren Unfall nicht mehr gehen. Auch ihr haben die AZ-Leser geholfen.
Zerrin Vaizoglu kann nach einem schweren Unfall nicht mehr gehen. Auch ihr haben die AZ-Leser geholfen. © Petra Schramek

Nach einem schweren Unfall kann Zerrin Vaizoglu nicht mehr gehen. Jetzt wünscht sie sich ein „Handbike“, umselbstständiger zu werden. Die Geschichte der 20-Jährigen.

Mit 20 will man mit Freunden um die Häuser ziehen. Tanzen. Die Welt erkunden. All das ist Zerrin Vaizoglu verwehrt. Sie sitzt im Rollstuhl.

Der Tag, der ihr Leben veränderte, war der 13. April 2007. An den Unfall selbst hat die junge türkische Frau keine Erinnerung mehr. Die schreckliche Zeit danachwird sie aber ihr Leben lang nicht vergessen. Die Schmerzen. Den Moment, als die Ärzte ihr sagten, dass sie nicht mehr gehen kann. „Das war ganz schlimm für mich. Ich habe Tag und Nacht geweint.“

Was ist an diesem unseligen Abend im April passiert? Um das zu erklären, muss Zerrin ein wenig ausholen. Ihre Geschichte beginnt nicht erst mit dem Unfall.

Zerrin war schon lange kein glückliches Mädchen mehr. Seit ihrem 13. Lebensjahr leidet sie an einer Borderline-Störung, einer psychischen Krankheit. Immer wieder verletzte sie sich selbst, ritzte sich die Arme auf. Ein typisches Symptom der Erkrankung. Die junge Frau erklärt das so: „Wenn man sich am Arm wehtut, spürt man die Schmerzen in der Seele nicht mehr.

Vom Heckscher-Klinikum wird sie in eine therapeutische Wohngruppe nach Thüringen geschickt. „Da ging’s mir noch schlimmer. Ich wollte da von Anfang an nicht hin.“ Dort, weit weg von daheim, geschieht das Unglück. Am Abend des 13. April will Zerrin noch eine Runde spazierengehen. Ein Betreuer aus der Wohngruppe hat ihr das verboten – sie geht trotzdem.

Die Landstraße hat keinen Gehweg. Deshalb läuft sie auf der Fahrbahn. Es ist schon nach 22 Uhr und dunkel. Der Betreuer setzt sich ins Auto, folgt ihr. Als er Zerrin etwa 500 Meter vom Heim entfernt sieht, bleibt er mit dem Wagen auf der Straße stehen. Das Fernlicht ist an. In dem Moment kommt ein Auto aus der anderen Richtung. Die Frau am Steuer ist geblendet. Dann kracht es. Zerrin.

Sie hätte den Unfall beinahe nicht überlebt. Zwei mal muss sie wiederbelebt werden. Zahlreiche Knochen sind gebrochen oder gesplittert. Auch ein Teil ihrer Halswirbel. Fünf Wochen liegt das damals 16-jährige Mädchen im Koma.

Als sie wieder erwacht, ist nichts mehr wie vorher. „Nach dem Unfall konnte ich echt gar nichts mehr bewegen“, erinnert sie sich. Auch die Hände versagen am Anfang den Dienst. Eine Operation reiht sich an die nächste – erst vor drei Monaten fand wieder ein Eingriff statt.

Mit der Zeit geht es ihr ein bisschen besser. Sie kann ihre Hände wieder benutzen. Sie hat gelernt, mit dem Rollstuhl umzugehen. Doch noch heute hat die inzwischen 20-Jährige jeden Tag Schmerzen. Im Winter ist es schlimmer als im Sommer. Die Kälte.

Seit dem Unfall plagen schlimme Albträume die junge Frau. Im Schlaf sieht sie, wie Menschen, die ihr etwasbedeuten, einen Unfall haben. Während sie all das erzählt, vergießt Zerrin keine einzige Träne. Obwohl sie im Vorfeld sicher war, weinen zu müssen.

Jetzt ist sie stolz auf sich, weil sie ihre Geschichte so tapfer schildert.

„Die ersten zwei Jahrewaren der Horror für mich. Ich dachte, ich will sterben“, sagt sie. Und natürlich hadert sie auch jetzt mit ihrem Schicksal. Was gäbe es da auch zubeschönigen. Zerrin drückt es ganz unverblümt aus: „Ich finde das Scheiße. Das ganze Leben hat sich verändert.“

Natürlich gäbe es Menschen, denen es noch schlechter gehe. Das 12-jährige Mädchen, das sie im Rehabilitationszentrum „Pfennigparade“ kennenlernte zum Beispiel. Das konnte sich gar nicht bewegen. Aber soll das ein Trost sein? „An manchen Tagen denke ich: Warum bin ich in diesem Stuhl?“

Nach dem Unfall verlor sie viele Freunde. Ein Mädchen sagt ihr rundheraus, dass sie sich für sie schämt.

Zerrins Alltag spielt sich derzeit hauptsächlich an zwei Orten ab. Seit ein paar Monaten arbeitet sie in einer Werkstatt für Behinderte in Unterschleißheim – gerade stand dort das Basteln vonWeihnachtsanhängern für einen Basar auf dem Programm. Nicht unbedingt eine ausfüllende Aufgabe für eine 20-Jährige.

Nach getaner Arbeit kommt Zerrin heim. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern am Harthof im Münchner Norden. Ein reiner Frauen-Haushalt: Die Ehe der Eltern zerbrach nach dem Unfall der Tochter. Die 72 Quadratmeter große Wohnung ist sehr gepflegt, aber bescheiden. Die Mutter schläft bei Zerrin im Zimmer. Und auch die beiden Schwestern (17 und 18) teilen sich einen Raum. Früher, vor dem Unfall, arbeitete Zerrins Mutter als Reinigungskraft. Doch das kann sie heute nicht mehr – die Bandscheiben.

Sie sitzt in leicht zusammengekauerter Körperhaltung mit am Tisch, während ihre Tochter erzählt. Man sieht ihr die schweren Jahre an. All die Sorgen. „Ich bin zufrieden mit den Fortschritten, die Zerrin gemeistert hat“, sagt sie bloß. Sofort schießt ihr Wasser in die Augen. Verstohlen wischt sie ihre Tränen weg.

Das Geld in der Familie ist knapp. Deshalb ist auch nicht daran zu denken, Zerrins großen Wunsch zu erfüllen: ein Handbike, also ein Zuggerät für ihren Rollstuhl. „Das wäre mir wichtig. Ich möchte selbstständiger werden und mich draußen fortbewegen können“, sagt die junge Frau. Dabei wäre das Bike eine große Erleichterung. Und es würde dafür sorgen, dass Zerrin sich mehr bewegt. Durch ihreBehinderung und dieMedikamentehat sie stark zugenommen. Ihr Körpergewicht hat sich fast verdoppelt. Das kann nicht so bleiben

Die Krankenkasse lehnte es jedoch ab, für das Gerät aufzukommen. Sie akzeptierte es nicht als Hilfsmittel. Rund 3000 Euro würde es kosten. Viel zu viel für die Familie.

Zerrins größter Traumist leider ohnehin nicht käuflich. Wieder gehen zu können. „Ich muss ja nicht unbedingt gut laufen. Es würde mir schon reichen, wenn ich mich mit einem Gehwagen fortbewegen könnte.“ Egal, was die Ärzte dazu gesagt haben – die 20-Jährigehat die Hoffnung nicht aufgegeben. Sie glaubt, dass sie es schaffen kann. Irgendwann. „Am Anfang konnte ich auch keinen einzigen Finger bewegen“, sagt sie. Das macht ihr Mut.

Julia Lenders

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