Münchner Händlerin spricht Klartext: "2021 wird ein Überlebenskampf"

München - Mit einem Gefühl im Bauch, das sich aus Hilflosigkeit und Verzweiflung zusammensetzte, hat Nicole Noli vor ein paar Tagen Supermärkte besucht. Sie nahm Mäntel und Shirts aus den Regalen und fragte an der Kasse:"Dürfen Sie das verkaufen? Es ist doch Lockdown." "Ja, wir sind ein Lebensmittelgeschäft", antwortete die Verkäuferin. "Aber das ist kein Lebensmittel", sagte Noli. Die 45-Jährige filmte die Szene, schickte sie Bekannten und der SPD - weil sie fand, dass sich da eine große Ungerechtigkeit ereignet.
Vor neun Jahren eröffnete Noli in München den Modeladen "Deargoods", der nachhaltige und fair produzierte Kleidung verkauft. Inzwischen betreibt sie sieben Filialen. Es sei gut gelaufen, sagt sie. Bis Corona. "2021 wird ein Überlebenskampf." Noli fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. Weil die Regierung erlaubt, dass Supermärkte Kleidung verkaufen. Während sie ihr vor Weihnachten sogar verbot, dass Kunden Ware an der Ladentüre abholen.
Kleine Händler klagen: Supermärkte machen ihnen Konkurrenz
Ab Montag geht das zwar. Doch Noli ist nicht sicher, ob sie das anbieten möchte. Ihre Mitarbeiter seien gerade alle in Kurzarbeit. Modeberatung per Videochat sei aufwendig. "Vor Weihnachten hätte sich das vielleicht gelohnt", sagt sie. Nun fürchtet sie, dass sie Verlust macht.
Bernd Ohlmann, Pressesprecher des Bayerischen Handelsverbands, kann ihre Verzweiflung verstehen. Bei ihm hätten sich in den vergangenen Wochen viele kleine Ladenbesitzer gemeldet, die sich darüber beschwerten, dass immer mehr Bücher, Kleidung und Küchengeräte die Supermarktregale füllten.
"Doch diese Abteilungen gab es schon immer", sagt Ohlmann. Die Supermärkte würden sich an die Regeln halten. Und die stellte die bayerische Regierung auf: Wenn mehr als die Hälfte der Ware im erlaubten Bereich liegt, also zum Beispiel aus Lebensmitteln besteht, darf das Geschäft auch die andere Hälfte des Sortiments verkaufen.
Eine Kontrolle des Sortiments ist schwierig
"Natürlich wäre es optimal, die Politik würde das Angebot der Supermärkte beschränken. Doch wer soll das kontrollieren?", fragt Ohlmann. Er, aber auch die SPD-Stadträtin Simone Burger, fordern deshalb, dass staatliche Hilfen schneller bei kleinen Händlern ankommen.
"Denn momentan fühlen wir uns verscheißert", sagt Bernd Ohlmann. Während Wirte 75 Prozent ihres Umsatzes erstattet bekamen, seien Händler leer ausgegangen. "Für Corona-Hilfen kommen praktisch nur die Läden in Frage, die ohnehin vor dem Ruin stehen - so streng sind die Hürden."
"Wir machen AUFmerksam": Modebranche protestiert ab Montag
Darüber ärgert sich auch Ladenbesitzerin Noli. Sie nahm im Frühling einen Kredit von 250.000 Euro auf. Gerade denkt sie über ein zweites Darlehen nach, weil sie ihr Geschäft unbedingt retten möchte.
Außerdem beteiligt sie sich am Montag an einer Protest-Kampagne der Modebranche, die sich eine Frankfurter Agentur ausdachte. Um 11 Uhr sollen möglichst viele Händler Plakate mit dem Schriftzug "Wir machen AUFmerksam" in die Schaufenster hängen und Fotos davon auf Sozialen Netzwerken verbreiten.
Die Forderung: eine angemessene Entschädigung oder Ladenöffnung. Denn mit Corona habe sich keiner ihrer 30 Mitarbeiter angesteckt, als im Sommer die Läden offen hatten. Für Noli ist das der Beweis, dass das Infektionsrisiko in Geschäften gering ist.
Wenn sich nicht schnell etwas ändert, könnten laut dem Handelsverband 8.000 Geschäfte in Bayern pleitegehen. 25.000 Stellen seien in Gefahr. Auch Noli sorgt sich um ihre Mitarbeiter. Von ihrem Geschäft seien Familien abhängig - nicht nur in Deutschland, sondern in Indien, Portugal und der Türkei.