Interview

Münchner Forscher: "Die Wissenschaft lebt von der gegenseitigen Kritik"

Stephan Hartmann, Leiter des LMU-Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie, erklärt im AZ-Interview, warum es unter seinen Kollegen immer mehrere Wahrheiten geben kann.
von  Julia Sextl
"Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaftler zu entscheiden, welche Corona-Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden sollten", sagt Forscher Stephan Hartmann.
"Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaftler zu entscheiden, welche Corona-Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden sollten", sagt Forscher Stephan Hartmann. © Sebastian Gollnow/dpa

Der Leiter des LMU-Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit den philosophischen Fragen dazu.

AZ: Herr Professor Hartmann, wie kommt es, dass Wissenschaftler sich so vehement widersprechen, obwohl sie am selben Gegenstand arbeiten?
Stephan Hartmann:
Das kann mehrere Gründe haben: Zum einen lebt die Wissenschaft von gegenseitiger Kritik. Kritik bedeutet, dass man – zumindest für kurze Zeit – nicht übereinstimmt. Wissenschaftler wollen solche Kritikpunkte gemeinsam ausräumen. Das braucht Zeit, klappt aber. Es kann aber auch einfach wenige Daten zu einem Thema geben, und es kommt erst dann zu einer Einigung, wenn mehr Daten analysiert sind.

Aber tut die aktuelle Debatte der Wissenschaft noch gut?
Manche Personen wollen gezielt den Eindruck in öffentlichen Debatten entstehen lassen, dass sich die Wissenschaftler nicht einig sind, obwohl sie sich tatsächlich doch einig sind. Solche "Wissenschaftsleugner" geben sich fälschlicherweise als Experten aus und wollen die Wissenschaft in ein schlechtes Licht rücken – zuweilen um eigene politische Ziele zu verfolgen.

Stephan Hartmann.
Stephan Hartmann. © privat

"Wissenschaft ist immer ein Lernprozess, der nie abgeschlossen ist"

Wie kann es sein, das manches, das heute noch als wissenschaftliche Erkenntnis gilt, morgen schon nicht mehr wahr ist?
Das kann passieren. Aber es ist kein Grund, der Wissenschaft zu misstrauen. Es zeigt in aller Regel, dass Wissenschaftler aufgrund neuer Daten und Methoden etwas Neues dazugelernt haben. Wissenschaft ist immer ein Lernprozess, der nie abgeschlossen ist.

Damit unterscheidet sie sich von einer magischen Glaskugel. Überschreiten manche Wissenschaftler in der Coronakrise ihre Kompetenz?
In der gegenwärtigen Krise gehört es zu den Aufgaben der Wissenschaftler, Bürger darüber zu informieren und Politiker zu beraten, wie wirksam beispielsweise eine vorgeschlagene Anti-Corona-Maßnahme ist. Es ist nicht ihre Aufgabe, zu entscheiden, welche Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden sollten. Diese Entscheidung fällt in den Verantwortungsbereich der Politik, nicht der Wissenschaft. Dies gehört zur Rolle der Wissenschaft in liberalen Demokratien.

Lesen Sie hier: Brisantes Corona-Papier - War das alles richtig so?

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