Münchner Experte meint: Gute Pflege ist machbar

Gute Pflege in Deutschland ist machbar und bezahlbar, dieser Meinung ist der Münchner Pflege-Experte Claus Fussek (65).
von  Interview: Eva von Steinburg
Alte Menschen sind oft einsam und sind sehr dankbar für etwas Freundlichkeit.
Alte Menschen sind oft einsam und sind sehr dankbar für etwas Freundlichkeit. © Petra Schramek

München - Der Münchner Claus Fussek (65) gilt als der beste Pflege-Experte in ganz Deutschland. Im Interview mit der AZ spricht er über schwarze Schafe, Kaviar-Leistungen und die Pflegenoten: "Das ist Realsatire"

AZ: Herr Fussek, Sie sind ein bekannter Pflege-Kritiker. Trotzdem sagen Sie: Gute Pflege ist machbar und bezahlbar.
CLAUS FUSSEK: Das glaube ich. Doch das Thema Pflege interessiert immer nur die Betroffenen. Der Rest der Menschen leistet sich den Luxus, die Herausforderungen zu verdrängen. Ich fordere mehr Ehrlichkeit und Solidarität beim Thema Pflege!

Fussek: "Das Thema Pflege interessiert immer nur die Betroffenen"

Das ist doch gut: Der Pflegebeitrag ist 2019 gestiegen.
Entscheidend ist, dass Pflegekräfte besser bezahlt werden, das ist klar. Deswegen wird aber nicht automatisch die Qualität der Pflege gleich besser. Wenn die Fahrpreise erhöht werden, sind nicht automatisch die Züge pünktlicher. Aber die Politik ist auf dem richtigen Weg. Jeder will eine bessere Pflege.

Wie finde ich einen ambulanten Pflegedienst?
Die 32 Alten- und Service-Zentren (ASZ) der Stadtteile sind mit den Diensten im Viertel vernetzt. Die ASZ in München kennen die Pflegedienste und informieren. Sie sprechen aber keine direkte Empfehlung aus.

Oft haben die ASZ den Überblick, welcher Dienst in der Nähe Kapazitäten frei hat.
Ja, das ist praktisch. Diese Zentren sind wirklich ein vorbildliches Angebot in unserer Stadt: Die Sozialpädagoginnen in den ASZ im Viertel bieten zum Thema Pflege eine vertrauensvolle Beratung an. Sie machen auch präventive Hausbesuche.

Fussek: "Viele Anbieter arbeiten am Limit und sind überlastet"

Wie geht es den ambulanten Pflegediensten in München? Es sind ja über 300.
Viele Anbieter arbeiten am Limit und sind überlastet, Wohlfahrtsverbände wie private Dienste. Alle sind Dienstleister. Die Pflegedienste untereinander sind natürlich auch Konkurrenten. Die meisten haben eine sehr angespannte Personalsituation. Gute Pflegedienste werden meist über Mundpropaganda empfohlen und haben oft Wartelisten.

Der Zeitdruck bei der Arbeit ist bekannterweise enorm hoch.
Das bedeutet, dass die Pflegekräfte oft von Patient zu Patient hetzen. Bei vielen gibt es leider eine sehr hohe Personalfluktuation. Die Arbeitsbedingungen sind für manche Pfleger inzwischen unzumutbar.

Sie sagen: Ambulante Pflege ist Vertrauenssache.
Ja, in einem sehr hohen Maß. Man lässt fremde Menschen in seine Wohnung. Da soll nicht jede Woche jemand anders kommen. Oder es erscheinen Hilfskräfte, die womöglich kein Wort Deutsch sprechen. Außerdem ist immer die Frage: Dokumentiert mein Pflegedienst ehrlich? Wichtig sind Verträge, bei denen das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt und eine nachvollziehbare Pflegedokumentation.

Fussek: "Ältere Menschen sind häufig einsam und für Freundlichkeit sehr dankbar"

Was macht für Sie als Experte einen guten Pflegedienst aus?
Klein und überschaubar ist zum Beispiel gut. Sinnvoll sind kurze Wege. Die Patienten sollen zum Großteil im Viertel sein. Es gibt Dienste, die schicken ihre Pflegekräfte teils mit dem Fahrrad los. So sind sie nur kurz unterwegs und haben mehr Zeit für die alten Menschen. Vorbildliche Dienste haben unter anderem einen offenen Umgang mit Kritik und mit Beschwerden. Sie haben verständnisvolles, freundliches Personal, das einen respektvollen Umgangston anschlägt. Eine sprachliche Verständigung muss unbedingt möglich sein!

Die Wünsche der alten Menschen sind relativ bescheiden, behaupten Sie.
Ältere Menschen sind häufig einsam. Für Freundlichkeit sind pflegebedürftige Menschen sehr dankbar. Sie möchten, dass die Schwester Einfühlungsvermögen hat, Interesse hat und sich kümmert. Ein freundliches Wort dauert genauso lange wie ein unfreundliches, sage ich immer.

Alte Menschen sind oft einsam und sind sehr dankbar für etwas Freundlichkeit.
Alte Menschen sind oft einsam und sind sehr dankbar für etwas Freundlichkeit. © Petra Schramek

Fussek: "Für 'Kaviar-Leistungen' fehlt den Pflegediensten das Personal"

Was halten Sie von Pflege-Extras, die Patienten für viel Geld buchen können?
Die gibt es. Denn Pflege ist ein Geschäft. Die Pflege-Extras sind wie Igel-Leistungen beim Arzt. Die Pflegeversicherung ist eine Teilleistung. Wer vermögend ist – oder wohlhabende Angehörige hat –, zahlt die Extras selbst: etwa Fußpflege, eine Runde Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel oder einen Spaziergang im Park. Die Branche nennt sie "Kaviar-Leistungen". Aber kaum ein Pflegedienst kann sie anbieten, weil Personal dafür fehlt.

Patienten ohne Geld können einen Antrag beim Bezirk Oberbayern stellen...
…auf eine bezahlte Einkaufshilfe, für neue Winterschuhe oder eine Begleitung zum Grab der Frau an deren Geburtstag, zum Beispiel. In den ASZ kennen sich die Sozialpädagoginnen für die präventiven Hausbesuche mit solchen Extra-Leistungen aus. Denn es gibt Stiftungen, Vereine und Behörden, die mit Geld einspringen. In München bekommt jeder Hilfe.

Doch der Preis klingt durchaus saftig.
Der Preis für Zusatzleistungen wie Pflege-Extras ist frei. Als Kunde kann ich ja mein Obst auch beim Aldi oder auf dem Viktualienmarkt kaufen. Zum Teil ist es jedoch absurd: Für eine Putzfrau bezahlen Sie etwa 17 Euro die Stunde. Doch für eine zusätzliche hauswirtschaftliche Versorgung durch den Pflegedienst muss man mitunter mehr als 38 Euro die Stunde bezahlen.

Fussek: "Viele Münchner sind bereit, für eine gute Leistung mehr zu bezahlen"

Wieso eigentlich?
Ein ambulanter Pflegedienst hat festangestellte Mitarbeiter, die natürlich mehr kosten. Das ist ein Grund. Das Problem ist, dass die extrem große Honorar-Spanne für Kaviar-Leistungen für die Kunden oft nicht nachvollziehbar ist. Viele Münchner sind aber bereit, für eine gute Leistung mehr zu bezahlen.

Außerdem gibt es eine kritische emotionale Abhängigkeit, betonen Sie.
Alte Menschen und deren Angehörige halten sich natürlich gerne an Dienstleister, mit denen sie schon vertraut sind. Sie leisten sie sich dann vielleicht für eine Stunde Spazierengehen. Das Thema Pflege darf man eigentlich nicht den Gesetzen der Marktwirtschaft überlassen, finde ich.

Was ist, wenn ich Angst habe, an ein schwarzes Schaf zu geraten. Gibt es eine Liste mit Pflegediensten, gegen die ein Strafverfahren läuft?
So eine Liste gibt es nicht. Es ist leider ein Stück Realität, dass Dienste weiterarbeiten und vermittelt werden, gegen die ein Verfahren wegen Abrechnungsbetrug läuft. So kann man als Kunde in die Bredouille geraten. Selbst die schlechten Dienste kann man nicht vom Markt nehmen: Wer versorgt dann die alten Menschen? Die Leute sind froh, dass überhaupt jemand nach Hause kommt. Und: Manchmal hat ein an sich sehr guter Dienst einfach Pech mit einem unseriösen Mitarbeiter. Die Qualität der Dienste kann also schnell wechseln.

Fussek: "Diese Pflegenote können Sie vergessen. Das ist Realsatire."

Im DAK-Navigator steht für jeden Pflegedienst eine Note, die der Medizinische Dienst (MDK, d. Red.) bei seiner jährlichen Qualitäts-Kontrolle vergibt. Kann man sich auf dieses Urteil verlassen?
Diese Pflegenote können Sie vergessen. Das ist Realsatire. Das hat für den Verbraucher keinen Informationsgehalt. Praktisch alle Dienste haben eine 1,0 oder eine 1,3. Der MDK besucht die Pflegedienste immer angekündigt und begleitet sie zu ausgewählten Patienten. Für mich ist das keine echte Qualitätskontrolle. Die guten Noten sind dazu da, damit wir als Gesellschaft ruhig schlafen können.

Gute Pflege, haben Sie stets propagiert, sei zunächst einmal eine Frage der ethischen Grundhaltung.
Dazu gehört Ehrlichkeit – und dass sich Pflegekräfte solidarisieren: mit den Angehörigen und mit den ihnen anvertrauten Menschen. Außerdem müssen Namen genannt werden: Die schlechten oder kriminellen Dienste müssen öffentlich gemacht werden, damit sie vom Markt kommen – und sich gute positionieren.

Lesen Sie hier: Pflege in München - Unterwegs mit dem Ambulanten Pflegedienst

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