Münchner Boazn dürfen nicht sterben!

Gentrifizierung bedroht auch die kleinen Trinkstüberl. Der Student Max Bildhauer verewigt sie nun in einem Büchlein  
Tina Angerer |
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Der Wolpertinger grüßt: Das „Augustiner Stüberl“ (Tegernseer Landstraße 119) heißt im Volksmund auch „Trepperl“, weil es ein paar Stufen erhöht liegt. Über dem Tresen wacht ein eigenwilliger Wolpertinger. Über einen Stammgast geht die Kunde, dass er, ein Mitarbeiter der Paulaner-Brauerei, zur Pensionierung einen Gutschein über 100 Freibier in der Kneipe seiner Wahl geschenkt bekommen hat. Es geht die Kunde, er habe die 100 Bier binnen einer Woche vernichtet.
Max Bildhauer 6 Der Wolpertinger grüßt: Das „Augustiner Stüberl“ (Tegernseer Landstraße 119) heißt im Volksmund auch „Trepperl“, weil es ein paar Stufen erhöht liegt. Über dem Tresen wacht ein eigenwilliger Wolpertinger. Über einen Stammgast geht die Kunde, dass er, ein Mitarbeiter der Paulaner-Brauerei, zur Pensionierung einen Gutschein über 100 Freibier in der Kneipe seiner Wahl geschenkt bekommen hat. Es geht die Kunde, er habe die 100 Bier binnen einer Woche vernichtet.
Das XXL-Stüberl: Das „Gasthaus Alt Giesing“ (Tegernseer Landstraße 93) ist laut Autor Max Bildhauer insofern ein Missverständnis, als es gar kein Gasthaus ist. Zu Essen gibt es nur was, wenn sich noch was in der Küche findet, also ist es eine Boazn im Sinne des Autors. Das Besondere aber ist, dass es von der Größe her durchaus ein Gasthaus sein könnte – es ist also eine Art XXL-Stüberl. Es läuft Jodel-Musik, und an einem Freitag im Monat gibt es eine Motto-Party.
Max Bildhauer 6 Das XXL-Stüberl: Das „Gasthaus Alt Giesing“ (Tegernseer Landstraße 93) ist laut Autor Max Bildhauer insofern ein Missverständnis, als es gar kein Gasthaus ist. Zu Essen gibt es nur was, wenn sich noch was in der Küche findet, also ist es eine Boazn im Sinne des Autors. Das Besondere aber ist, dass es von der Größe her durchaus ein Gasthaus sein könnte – es ist also eine Art XXL-Stüberl. Es läuft Jodel-Musik, und an einem Freitag im Monat gibt es eine Motto-Party.
Boazn a la Boheme: Im „Schau Ma Moi“ (Tegernseer Landstraße 82), das früher „Bratwurst Glöckl“ hieß, ist vieles anders: Es gehört den Leuten vom Plattenlabel „Trikont“, die im Rückgebäude residieren und zum Erhalt bayerischer Originalität auch die Stüberl-Kultur zählen. 
So steht hier nicht nur Trikont-Ware unterm Tresen, es laufen zum Beispiel auch Mixtapes vom DJ Albert, das Essen ist vielfältiger als üblich und das Publikum zum Teil avantgardistisch. Hier treffen sich Bauarbeiter und Künstler, Hobbyfußballer und Musiker. Es ist also eine Boazn mit Boheme.
Max Bildhauer 6 Boazn a la Boheme: Im „Schau Ma Moi“ (Tegernseer Landstraße 82), das früher „Bratwurst Glöckl“ hieß, ist vieles anders: Es gehört den Leuten vom Plattenlabel „Trikont“, die im Rückgebäude residieren und zum Erhalt bayerischer Originalität auch die Stüberl-Kultur zählen. So steht hier nicht nur Trikont-Ware unterm Tresen, es laufen zum Beispiel auch Mixtapes vom DJ Albert, das Essen ist vielfältiger als üblich und das Publikum zum Teil avantgardistisch. Hier treffen sich Bauarbeiter und Künstler, Hobbyfußballer und Musiker. Es ist also eine Boazn mit Boheme.
Der Dino der Wirte: Der Herrscher hier ist Jahrgang 1933 und steht seit 1970 hinterm Tresen im „Grandauer Fassl“ (Freibadstraße 6). Das Stüberl ist voller Bayernkitsch, inklusive eines „Almhütten“-Daches, das ein Spezl des Wirts, der bei den Bavaria Filmstudios arbeitete, gebastelt hat. Nachts findet ein Schönheitswettbewerb statt, die Damen sind die Jury, und der Gewinner bekommt einen Hausschnaps „verträumte Marille“ spendiert. Autor Max Bildhauer allerdings macht sich Sorgen. „Zuletzt hing ein Schild da: vorübergehend geschlossen. Hoffentlich ist dem Wirt nix passiert.“
Max Bildhauer 6 Der Dino der Wirte: Der Herrscher hier ist Jahrgang 1933 und steht seit 1970 hinterm Tresen im „Grandauer Fassl“ (Freibadstraße 6). Das Stüberl ist voller Bayernkitsch, inklusive eines „Almhütten“-Daches, das ein Spezl des Wirts, der bei den Bavaria Filmstudios arbeitete, gebastelt hat. Nachts findet ein Schönheitswettbewerb statt, die Damen sind die Jury, und der Gewinner bekommt einen Hausschnaps „verträumte Marille“ spendiert. Autor Max Bildhauer allerdings macht sich Sorgen. „Zuletzt hing ein Schild da: vorübergehend geschlossen. Hoffentlich ist dem Wirt nix passiert.“
Ausdauer im Outback: Das „Fasanenstüberl“ (Fasanengartenstraße 99) hat Max Bildhauer bei einer Radltour im Outback, dem Fasanengarten, entdeckt. An der Wand hängt Spitzweg, die Lampen sind stoffbespannt und auf dem Tisch stehen frische Schnittblumen. Dafür sorgen Fränki und Gusti, die diverse Boazn führten, bevor sie sich hier niederließen. Die zwei leben seit 18 Jahren in wilder Ehe und obwohl Gusti inzwischen einen Rollstuhl braucht, hält sie durch. Der Autor hat sich auch die Gepflogenheiten erklären lassen: „Bei uns gibts zur Brotzeit a Bussi von der Wirtin.“ Fränki hat da nichts dagegen.
Max Bildhauer 6 Ausdauer im Outback: Das „Fasanenstüberl“ (Fasanengartenstraße 99) hat Max Bildhauer bei einer Radltour im Outback, dem Fasanengarten, entdeckt. An der Wand hängt Spitzweg, die Lampen sind stoffbespannt und auf dem Tisch stehen frische Schnittblumen. Dafür sorgen Fränki und Gusti, die diverse Boazn führten, bevor sie sich hier niederließen. Die zwei leben seit 18 Jahren in wilder Ehe und obwohl Gusti inzwischen einen Rollstuhl braucht, hält sie durch. Der Autor hat sich auch die Gepflogenheiten erklären lassen: „Bei uns gibts zur Brotzeit a Bussi von der Wirtin.“ Fränki hat da nichts dagegen.
Der Baum bleibt stehen: Das „Maibaumstüberl“ (Obere Weidenstraße 1) ziert ein Indoor-Maibaum-Imitat, im Jahr 1979 wurde hier beschlossen, den Maibaum aufzustellen, der heute am Hans-Mielich-Platz steht. Das „Maibaumstüberl“ stand schon auf der Kippe: Denn die Seele der Kneipe, Wirt Erich (siehe Foto), der der Legende nach auf einem Auge blind und auf einem Ohr taub gewesen ist, starb im Frühjahr 2012. 
Doch seit Mai gibt es Chris und Martin. Die jungen Wirtsleute bieten günstige Hausmannskost und tragen die Tradition des Ladens in die nächste Generation
Max Bildhauer 6 Der Baum bleibt stehen: Das „Maibaumstüberl“ (Obere Weidenstraße 1) ziert ein Indoor-Maibaum-Imitat, im Jahr 1979 wurde hier beschlossen, den Maibaum aufzustellen, der heute am Hans-Mielich-Platz steht. Das „Maibaumstüberl“ stand schon auf der Kippe: Denn die Seele der Kneipe, Wirt Erich (siehe Foto), der der Legende nach auf einem Auge blind und auf einem Ohr taub gewesen ist, starb im Frühjahr 2012. Doch seit Mai gibt es Chris und Martin. Die jungen Wirtsleute bieten günstige Hausmannskost und tragen die Tradition des Ladens in die nächste Generation

Gentrifizierung bedroht auch die kleinen Trinkstüberl. Der Student Max Bildhauer verewigt sie nun in einem Büchlein

Der Kartoffelsalat ist mit Gurkenscheiben und Ei dekoriert. „Der ist selbstgemacht, mit Liebe“, erläutert Max Bildhauer und bedankt sich bei Lore, der Wirtin, die ihm grad das Essen gebracht hat, bevor sie weiter schafkopft mit drei ihrer Stammgäste. 4,90 Euro will sie für die stattliche Portion Leberkas mit Kartoffelsalat. Im Kaiser-Stüberl ist Mittagszeit, manche machen hier nur Pause, für andere ist es nicht so wichtig, wie spät es ist: Sie sitzen am Tresen mit ihrem Bier, wie jeden Tag, wie zu jeder Uhrzeit. Das Kaiser-Stüberl ist eine der Bier-Kneipen, die der Student Max Bildhauer in seinem Büchlein „Munich Boazn“ vorstellt.

Der junge Mann mit Haferlschuhen, Hosenträgern und schwarzem Kappi spürt einem Gastronomie-Genre nach, das vom Aussterben bedroht ist. Im Nachwort des Buches erläutert der Autor und Denkmalpfleger Karl Gattinger die Boazn als „wohnzimmerartigen kleine Gastraum“, der „überwiegend zum Trinkgenuss“ genutzt wird und in dem ein „ins sich geschlossenes Milieu“ zu finden ist.

Max Bildhauer wählte absichtlich das Wort „Boazn“, das durchaus auch einen negativen Einschlag hat, etwas abfälliger ist als „Stüberl“. Aber was viele der Boazn gemeinsam haben, ist eben, dass sie bei Außenstehenden einen zweifelhaften Ruf genießen. Doch gerade das Unperfekte, das Ungestylte sucht Bildhauer. Für ihn sind die Stüberl der Beweis, dass nicht alles in München schick und teuer, nicht jeder Laden steril und gesichtslos sein muss.

Er ist in Giesing, einem Stüberl-Eldorado, aufgewachsen. Als er 15 war, hat Bildhauer Freunden die verrauchten und verruchten Winkel wie die „Giesinger Heiwoog“ gezeigt. Für die Gymnasiums-Kollegen aus Harlaching und Grünwald war das eine Reise in eine verbotene, zumindest aber verborgene Welt.

Heute ist Bildhauer 25 und viele Kneipen seiner Jugend gibt es nicht mehr. Deswegen hat er er als Abschlussarbeit seines Kommunikations-Design-Studiums den Guide der Trink- und Stehkneipen Giesings erstellt, als Band zwei folgt Sendling. Zwei Monate war Bildhauer unterwegs, 42 Kneipen sind beschrieben, meistens zahlte er weniger als 3 Euro für die Halbe. Das Image der Boazn, erklärt er, steht und fällt mit dem Wirt. „Gerade weil die Läden so klein sind, bestimmt er die Stimmung.“ Obwohl die Gäste überwiegend männlich sind, sind es oft Wirtinnen, die das Regiment führen – mit Herz und wenn nötig mit Strenge. Für alle Wirtsleute, die er traf, ist der Job „eine Passion“, sagt Bildhauer. Viele arbeiten bis ins hohe Alter. Das Klischee von den Hartz-IV-Spelunken weist Bildhauer zurück. „In der einen Kneipe sind Handwerker, in der anderen Hobbyfußballer, man trifft sehr unterschiedliche Leute.“ Diese Vielfalt will er zeigen.

Anfangs ist der junge Mann mit dem Fotoapparat oft als Eindringling angesehen worden. „Viele dachten, ich sei vom KVR und kontrolliere das Rauchverbot.“ Doch beim Bier wich die Skepsis.

Mit Sorge sieht Bildhauer, dass die Gentrifizierung die Boazn dahinrafft. „Wo gekauft und saniert wird, will der neue Besitzer keinen ,Schandlfleck’ mehr. Dafür haben wir hier ein Architekturbüro neben dem anderen.“ Allein seit vergangenem Sommer, seit er für das Buch recherchiert hat, sind fünf der beschriebenen Boazn, darunter auch die „Giesinger Heiwoog“ geschlossen worden. Im Buch tragen sie deswegen einen Trauerrand.

Seine Message ist: „Rettet die Boazn“. Jeder möge ein Bier-Biotop in seiner Nähe einmal beehren, „bevor die nächste Boutique oder der nächste Coffeeshop dort eröffnet“. Wir Münchner, so findet Bildhauer, „müssen endlich den Charme des Schmutzigen und Zwielichtigen erkennen und begreifen, dass diese Elemente notwendig sind, um das soziale und kulturelle Gleichgewicht dieser Stadt zu erhalten“.

Maximilian Bildhauer: „Munich Boazn“ (Volk-Verlag, 10,90 Euro)

 

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