Interview

Münchner Arbeitsforscher: "Wir im Liegestuhl und die Roboter tun alles – dieses Bild trägt nicht"

Wird künftig die Arbeit ausgehen? Nimmt KI uns die Jobs weg und hat die 40-Stunden-Woche eine Chance? Die AZ fragt den Münchner Arbeitsforscher Norbert Huchler.
von  Lisa Marie Albrecht
Wie lange sitzen wir selbst noch im Büro vor dem Computer – übernimmt vielleicht irgendwann die KI? (Symbolbild)
Wie lange sitzen wir selbst noch im Büro vor dem Computer – übernimmt vielleicht irgendwann die KI? (Symbolbild) © Sebastian Gollnow/dpa

München - Viele Arbeitnehmer sind verunsichert, überarbeitet und frustriert. Zum einen sehen sie ihre Jobs durch Künstliche Intelligenz bedroht, zum anderen sorgt der Fachkräftemangel für ein (zu) hohes Arbeitspensum. Der Münchner Arbeitsforscher Norbert Huchler erklärt im AZ-Interview, ob die Schreckensszenarien zur KI wirklich Realität werden könnten und welche Maßnahmen gegen den Arbeitskräftemangel helfen könnten.

AZ: Herr Huchler, wir sitzen in einem relativ gewöhnlichen Büro mit Schreibtisch, Bücherregal und PC. Wird Ihr Arbeitsplatz in zehn Jahren noch so aussehen?
NORBERT HUCHLER: Kein Arbeitsplatz sieht immer gleich aus. Wenn man sich allein ansieht, was sich mit Corona in Bezug auf digitale Kommunikation, zum Beispiel Videokonferenzen, getan hat, da hat sich meine Arbeit in den letzten drei Jahren stark verändert – vor allem noch weiter verdichtet. Das Interessante ist, dass sich solche Wandlungsprozesse nicht so einfach vollziehen, wie oft prognostiziert. Es gibt kein Entweder-Oder im Sinne von: Jetzt ersetzt die Remote-Arbeit die lokale Arbeit. Arbeit ist ein komplexes sich ständig wandelndes System, in das wir zum Beispiel neue Technologien integrieren.

Arbeitsforscher aus München: "Künstliche Intelligenz rationalisiert nicht nur die langweiligen Dinge"

Stichwort Technologie: Sie haben sich intensiv mit dem Thema Künstliche Intelligenz auseinandergesetzt. Wird das die Arbeitswelt in Zukunft am meisten verändern?
Es ist schwer nachzuweisen, inwieweit einzelne Technologien Auswirkungen auf die Arbeitswelt insgesamt haben. Bei KI kommt hinzu, dass teilweise sehr viel darunter gefasst wird. Es kursieren dann leider schnell sehr unterschiedliche Zahlen zum Beispiel über möglicherweise wegrationalisierte Arbeitsplätze oder Beiträge zur Wirtschaftsleistung. Die erzeugen hohe Aufmerksamkeit, aber in der Regel wird die Komplexität und Anpassungsfähigkeit von Arbeit völlig unterschätzt. Entscheidend ist die Frage, wie wir neue Technologien gestalten und in die Arbeit integrieren. Ohne entsprechende Arbeitskonzepte ändert sich rein durch die Technik nicht viel.

Im besten Fall soll uns die KI lästige Arbeit abnehmen. Welche Chancen und Risiken sehen Sie?
Die KI rationalisiert nicht nur die langweiligen, stupiden Dinge, sondern dringt jetzt in Bereiche vor, in denen das zunächst nicht erwartet wurde, zum Beispiel in die einfachen Anteile von kreativen Tätigkeiten. Man muss hier genau hinsehen, denn die Technologie macht nicht das gleiche wie der Mensch. KI ist weder kreativ, noch emotional beziehungsweise empathisch oder intuitiv und sie versteht auch nichts. ChatGPT zum Beispiel macht etwas, was wir durch Empathie, Kreativität und Intelligenz lösen, auf Basis eines im Wesentlichen immer gleichen Verfahrens beziehungsweise Statistik.

Der 49-jährige Norbert Huchler ist Arbeitssoziologe am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung München (ISF). Er forscht zum Zusammenspiel von Mensch, Technik, Organisation und Gesellschaft sowie zur zukunftsfähigen Gestaltung von Arbeit im Wandel.
Der 49-jährige Norbert Huchler ist Arbeitssoziologe am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung München (ISF). Er forscht zum Zusammenspiel von Mensch, Technik, Organisation und Gesellschaft sowie zur zukunftsfähigen Gestaltung von Arbeit im Wandel. © privat

Es gilt, Konzepte der Arbeitsgestaltung zu entwickeln, wie KI-Verfahren genutzt werden können, um Arbeit und Gesellschaft voranzubringen. Wichtig ist die Passung zwischen KI und Arbeitspraxis. Am ISF München erarbeiten wir hierfür in verschiedenen Forschungsprojekten Leitplanken, Methoden für Veränderungsprozesse wie auch konkrete Konzepte der Arbeits- und Technikgestaltung. Zentral ist es auch, die Unterschiede zwischen Mensch und Technik zu erkennen und hervorzuheben. Auf dieser Basis können wir die Technik so gestalten und uns zugleich so weiterqualifizieren, dass Mensch und Technik sich komplementär ergänzen und zusammen "koevolutionär" den nächsten Produktivitätsschritt machen. So entwickeln sich auch Berufe weiter.

Arbeitsforscher Norbert Huchler zur KI: "Es gibt überzogene und inszenierte Angstdiskurse"

Können Sie ein Beispiel nennen?
Zum Beispiel die Medizin. Es wird kein Arzt oder keine Ärztin in der heutigen Zeit den Job durch KI verlieren. Und es wird nicht weniger Ärztinnen geben, nur weil die KI bestimmte Analyseverfahren übernehmen kann. Aufgrund der Arbeitslast und dem hohen Bedarf an Qualitätssteigerung in der Medizin wird das sofort kompensiert. Der Beruf hat ein hohes Adaptionspotenzial. Sprich, wenn ich zehn Prozent an einer Stelle wegnehme, kommen an anderen Stellen zehn Prozent und mehr hinzu.

In einem anderen Bereich, wie zum Beispiel die Sichtprüfung bei einem Reifenhersteller, wo am Ende nur noch draufgeschaut wird, ob das alles in Ordnung ist: Dieser Job kann durch KI nahezu komplett wegfallen. Aber es sind sehr wenige Bereiche, wo etwas komplett entfällt, weil es von KI erledigt werden kann. Meistens sind es Anteile von Jobs. Und dann fallen auch nicht zehn Prozent der Tätigkeiten weg oder gar zehn Prozent der Beschäftigten in diesem Bereich, sondern zum einen entsteht rund um KI zusätzliche Arbeit – und sie macht auch selbst Arbeit – und zu anderen entwickeln sich Jobs permanent weiter. Ein Automechaniker vor 20 Jahren hat auch nicht das gleiche gemacht wie ein Automechaniker heute.

Können Sie verstehen, dass Menschen Angst haben, dass ihre Jobs in Zukunft von KI ersetzt werden?
Aufmerksamkeit ist angebracht. Aber es gibt neben den realen Wandlungsprozessen und Herausforderungen auch überzogene und inszenierte Angstdiskurse. Was die Gesellschaft braucht, sind nachhaltige beziehungsweise zukunftsfähige Leitbilder, Veränderungsprozesse und Gestaltungskonzepte. Zum Beispiel brauchen wir eine Idee, wie Mensch und Technik in Zukunft zusammenwirken sollen. Eine häufig genannte "positive" Idee ist der Ersatz der Arbeit. Sprich, wir liegen im Liegestuhl und die Roboter machen alles außenherum. Dieses Bild trägt aber nicht. Denn: Die Arbeit geht uns nicht aus. Wir machen immer mehr und sind dazu immer gestresster. Auch deshalb besteht teilweise ein negatives Bild von Arbeit als etwas, was wir loswerden wollen. Wir brauchen aber auch ein positives Bild einer Zukunft, in der wir mit Arbeit gut leben.

"Menschen fordern die 30-Stunden-Woche, weil sie auch im Privatleben erschöpft sind"

Die Arbeit wird also nicht weniger. Wird sie einfacher?
Das hängt davon ab, wie wir Arbeit gestalten; zum Beispiel ob wir gute Wege finden, neue Technologien positiv in Arbeit zu integrieren. Wir werden produktiver werden, sollten aber zugleich fragen, was mit der Produktivitätsrendite geschehen soll. Investieren wir sie in eine Weiterentwicklung der Arbeit, in Ausbildung, in Qualifizierung, neue Arbeitskonzepte? Bestimmte Belastungen von Arbeit werden verschwinden und wir werden uns immer intensiver in Arbeit einbringen können. Aber das birgt auch viele neue Fallstricke.

Welche sind das?
Es gibt zum Beispiel eine Verschiebung von körperlichen zu psychischen und auch kognitiven Belastungen, von Fremdgefährdung zu Fremd- und Selbstgefährdung. Hintergrund sind immer komplexere Arbeitssettings, widersprüchliche Anforderungen, immer mehr Erreichbarkeit und so weiter. Deswegen ist es wichtig, die Bedingungen von Arbeit permanent zu verbessern. Das reicht von einer lern- und erfahrungsförderlichen Arbeits- und Technikgestaltung über mehr Partizipation bis hin zu den Beschäftigungsbedingungen. Dass man zum Beispiel von der Arbeit gut leben kann. Ich denke aber auch, dass in vielen Bereichen Menschen weniger arbeiten werden, aber intensiver. Und gleichzeitig wird sich unser Privatleben ändern.

Inwiefern?
Das Privatleben hat bereits immer mehr Arbeitscharakter erhalten. Wir sind auch im Privatleben sehr produktiv, wir arbeiten für Unternehmen und Behörden, die Arbeit an die Konsumentinnen auslagern oder Datenspuren nutzen. Und wir wollen sportlich sein, die Kinder gut erziehen, uns weiterbilden, uns gut ernähren, um die Gesundheit kümmern, Freizeiterlebnisse et cetera. Das geht alles mit Aufwand einher. Ich vermute, das ist einer der Gründe, warum Menschen die 35 oder 30 Stunden Woche fordern. Nicht, weil die neue Generation hedonistisch ist und allein mehr Freizeit für sich und mit der Familie fordern – was auch wichtig ist –, sondern weil die Menschen auch im Privatleben erschöpft sind. 30 Jahre weiter gedacht, stellt sich die Frage, was es für Neuschneidungen zwischen Arbeit und Privatleben geben wird. Die reine Arbeitszeit wird wahrscheinlich immer weniger aussagen über Produktivität und Belastung.

Wie Künstliche Intelligenz den Blick aufs Wesentliche schärfen könnte

Wie kann es gelingen, dass uns die Arbeit in Zukunft nicht mehr so stark belastet?
In Interviews mit Beschäftigten nennen uns diese oft, dass sie nicht mehr zu ihrer "eigentlichen Arbeit" kommen, ihrer Kernarbeit. Sie schätzen diese dann zum Beispiel auf 40 Prozent, der Rest ist aus ihrer Sicht unnötige Arbeit und oft ein Grund für Überlastung. Das heißt, wenn Arbeitsformen gefunden werden, die die Kernarbeit betonen und von Randtätigkeiten – zum Beispiel durch KI – entlasten, dann könnten die Beschäftigten in weniger Zeit auf eine gesündere Art und Weise mit höherer Zufriedenheit produktiver sein. Das ist eine Herausforderung für die Arbeitsforschung.

Das heißt, 40 Stunden an fünf Tagen die Woche ist eher kein zukunftsfähiges Modell?
Zumindest nicht als Standard in vielen Berufen und Lebenssituationen, auch wenn Arbeit ein Ort mit Phasen der Entlastung sein kann und muss. Eine Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich muss vor dem Hintergrund von Arbeits- und Fachkräftemangel sowie Produktivitätsdruck jedoch mit neuen Konzepten der Arbeitsgestaltung begleitet werden, damit die einhergehende Intensivierung nicht zu Überforderung und neuen Belastungen führt; wenn also mehr in weniger Zeit gearbeitet wird.

Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel: "Da gibt es viele hartnäckige Hürden"

Wenn über die Zukunft der Arbeit gesprochen wird, geht es fast immer auch um Fachkräftemangel. Eine Maßnahme wäre, Frauen stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie kann das gelingen?
Da gibt es viele, leider größtenteils sehr hartnäckige Hürden. Ein Baustein könnte die angesprochene Reduktion der Normalarbeitszeit sein auf einen Standard, der von allen erfüllt werden kann. Wenn in einer Familie mit mehreren Kindern beide Seiten 40 Stunden arbeiten, geht dies in der Regel mit einem hohen Aufwand, Belastungen und Nebenfolgen einher; zum Beispiel einem hohen Anteil an Fremdbetreuung und zum Teil auch Carework aus dem Ausland, was andere Mütter wiederum aus ihren eigenen Familien reißen kann. So oder so bleibt eine paritätische Beteiligung an Erwerbsarbeit ein sehr wichtiges Ziel.

Derzeit haben vor allem viele Jüngere das Gefühl, Erwerbsarbeit lohne sich nicht mehr, weil sie sich immer weniger leisten können. Können wir künftig noch von Arbeit leben – oder braucht es etwa das bedingungslose Grundeinkommen?
Ich halte von der Idee, dass wir ein bedingungsloses Grundeinkommen deshalb brauchen, um ungleiche und nicht zukunftsfähige Arbeitssysteme zu subventionieren, relativ wenig. Arbeit wird uns auch nicht ausgehen. Wichtig ist, dass dort Renditen erzielt werden können, wo Arbeit eingesetzt beziehungsweise Beschäftigung geschaffen wird; sowie die Reallöhne steigen und Ungleichheit sinkt. Da herrschen aktuell Ungleichgewichte und Fehlanreize. Auch der Fachkraftmangel bietet eine Chance, die Attraktivität von Arbeit zu stärken.

Kampf gegen den Fachkräftemangel sollte ohne Erhöhung des Rentenalters gekämpft werden

Was meinen Sie damit?
Der Fachkräftemangel erzeugt Druck, neue Formen zu finden, ältere Beschäftigte produktiv, gesund und motiviert zu halten und jüngere auszubilden, schneller und besser einzubinden und zu motivieren. Er könnte dabei unterstützen, niedrig Qualifizierte mit neuen Ansätzen zu qualifizieren, anstatt ihnen einfach nur ein Tablet in die Hand zu drücken und zu sagen: Arbeite die Checkliste ab. Wir müssen uns also viel mehr um Inklusion in den Arbeitsmarkt bemühen und bessere Arbeitsbedingungen schaffen, damit mehr Menschen produktiver und gesünder arbeiten können – ohne das Renteneintrittsalter zu erhöhen.

Letzteres ist aber eine sehr beliebte Forderung.
Die Folge wäre, dass die Menschen im Schnitt früher mit weniger Geld in Rente gehen. Diejenigen, die es können, arbeiten teilweise jetzt schon freiwillig nach der Rente weiter. Für bestimmte Leute ist es sogar gesund, zum Teil weiter zu arbeiten. Aber das Rentenalter pauschal zu erhöhen ist nicht zielführend; zumindest nicht bei der jetzigen Form von Arbeit. Die alten Lösungen greifen in der künftigen Arbeitswelt nicht mehr. Man muss komplexere erzeugen.

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