Interview

Münchenstift-Chef Siegfried Benker geht in Rente: "Pflege erfährt wenig Wertschätzung"

Zehn Jahre war der Grüne Siegfried Benker Chef der städtischen Münchenstift. Zum Abschied spricht er mit der AZ auch über Ängste, Pflaster, die Alarm schlagen und Maschinen, die tanzen.
von  Nina Job
Hier grünt und blüht es: Sigfried Benker auf der Dachterrasse der Münchenstift-Hauptverwaltung in Ramersdorf.
Hier grünt und blüht es: Sigfried Benker auf der Dachterrasse der Münchenstift-Hauptverwaltung in Ramersdorf. © Bernd Wackerbauer

München - Wenige Wochen noch, dann geht Siegfried Benker in den Ruhestand. Zehneinhalb Jahre hat der frühere Fraktionsvorsitzende der Rathaus-Grünen/Rosa Liste, das städtische Münchenstift geleitet – und vieles verändert. Die AZ trifft den 66-Jährigen auf der Dachterrasse der Hauptverwaltung in Ramersdorf. Dort blühen viele Blumen in Kübeln, etwas abseits steht ein Bienenstock. Benker muss vor dem Gespräch erst mal einen Käfer retten, der in einer Pfütze um sein Leben strampelt.

AZ: Herr Benker, was war Ihr schönster Tag in den Jahren im Münchenstift?
SIEGFRIED BENKER: Als dieses Jahr die Baugenehmigung für die Franz Nißl-Straße in Allach kam. Dort entsteht jetzt ein Niedrigenergiehaus mit 202 vollstationären Pflegeplätzen. Es wird das Hans-Sieber-Haus an der Manzostraße ersetzen. 2025 soll es fertig werden. Froh bin ich, weil sich Klagen der Nachbarn, Bürokratie, Corona und die Auswirkungen des Krieges gegen die Ukraine auf insgesamt acht Jahre Vorbereitungszeit addiert haben.

Münchenstift-Chef Siegfried Benker: Zuversicht beim Fachkräftemangel

In der Pflege wird dringend Personal gesucht. Wird es für dieses neue Haus mal genug Mitarbeiter geben?
Das wird eine Herausforderung – aber ich bin hier zuversichtlich. Wir sind eines der wenigen Unternehmen in Bayern, die es schaffen, alle Plätze zu belegen, weil wir genug Fach- und Hilfskräfte haben. Unsere Quote ist bei 99,5 Prozent.

Wie schaffen Sie das?
Ich denke, das liegt daran, dass wir viel für unsere Mitarbeiter getan haben. Und wir sind ununterbrochen dabei, zu suchen und auszubilden. Die Münchenstift ist der größte kommunale Ausbildungsbetrieb in der Altenpflege.

Wo im Ausland akquirieren Sie überall?
Wir haben viele Mitarbeiter aus Bosnien, Serbien, Kroatien und wir akquirieren in Albanien und Tunesien. Unsere Mitarbeiter kommen aus 94 Ländern, der Migrationsanteil liegt bei 60 Prozent, bei Azubis 90 Prozent.

Siegfried  Benker: Immer weniger Deutsche arbeiten in der Pflege

Warum wollen weniger Deutsche in die Pflege?
Ich denke, das liegt vor allem daran, dass der Beruf in der Gesellschaft wenig Wertschätzung erfährt. Wir müssen aufhören, Pflege als Jammerbild zu zeigen.

In den Münchenstift-Häusern gibt es kostenlosen Kaffee für die Mitarbeiter, Müsli und Obst. Was bietet der Arbeitgeber Münchenstift noch?
Schon 2016 habe ich mit Verdi einen Haustarif für Pflegekräfte ausgehandelt, der höher ist als der TVöD (Tarifvertrag öffentlicher Dienst, die Red.), in unserem TVöD+ liegt das Einstiegsgehalt um 300 bis 400 Euro höher. Und ganz wichtig ist die Kultur im Unternehmen. Wir wissen, dass Altenpflege ein ganz herausfordernder, sehr komplexer Beruf ist und dementsprechend geben wir den Menschen auch die Kompetenz und Möglichkeit, das wahrzunehmen. Deshalb haben wir ein neues Pflegemodell eingeführt, eingeführt, das "Primary Nursing"-Modell.

Hier grünt und blüht es: Sigfried Benker auf der Dachterrasse der Münchenstift-Hauptverwaltung in Ramersdorf.
Hier grünt und blüht es: Sigfried Benker auf der Dachterrasse der Münchenstift-Hauptverwaltung in Ramersdorf. © Bernd Wackerbauer

Was ist das?
Die Pflegekräfte organisieren sich in ganz kleinen Gruppen und pflegen eine kleine Gruppe von Bewohnern. Die Folge ist, dass die Zufriedenheit bei den Mitarbeitern und Bewohnern steigt. Wir haben das anhand von Umfragen gemessen.

Wie weit sind Sie mit der Digitalisierung?
Äußerst weit. Vor sechs Jahren haben wir ein großangelegtes Digitalisierungsprogramm begonnen. Heute sind wir in der Lage, die Dokumentation mit dem Smartphone zu machen. Wenn die Pflegekräfte am Bett oder unterwegs mit dem Bewohner sind, können sie das am Handy aufnehmen und es wird sofort eingepflegt. Das geht sogar per Spracherkennung.

Gibt es auch im Münchenstift bald Pflegeroboter?

Wie viel Zeit sparen die Pflegekräfte damit ein?
Bis zu 120 Minuten pro Schicht. Das sind 120 Minuten mehr, um beim Menschen sein zu können. Unser Motto ist: Prozesse straffen, Zeit für Pflege schaffen.

Das wünschen sich Pflegekräfte in vielen Kliniken auch. Warum dauert es immer so lang mit der Digitalisierung?
Das sind halt immense Investitionen. Wir haben dafür eine hohe einstellige Millionensumme aufgewandt in sechs Jahren. Wir mussten zuerst alle Häuser mit Glasfaser ausstatten, dann mit WLAN-Spots und schließlich haben wir rund 750 Smartphones mit der entsprechenden Software anschaffen und das Personal schulen müssen.

Werden im Münchenstift bald auch Pflegeroboter im Einsatz sein?
Ich glaube nicht daran, dass es in absehbarer Zeit welche geben wird. Die Menschen, die bei uns einziehen, haben im Schnitt zwölf Vorerkrankungen, da ist eine sehr hohe Kompetenz erforderlich. Pflegeroboter werden auf keinen Fall den kommenden Pflegenotstand lindern. Mit KI werden sie sicherlich mehr können. Aber da bin ich konservativ, sie werden den menschlichen Kontakt nicht ersetzen. Ich finde das einen falschen Weg, das Thema Pflege anzugehen.

Nutzen Sie andere moderne technische Hilfsmittel?
Wir hatten zum Beispiel eine Matratze angeschafft, die sich selbstständig bewegen und Bewohner umlagern kann. Dafür müssen sie nicht mal geweckt werden. Diese Matratze haben wir gegen Dekubitus (Druckgeschwür, die Red.) getestet. Aber wir haben festgestellt, dass viele demente Menschen Angst haben vor dieser Matratze.

Diese technischen Neuerungen werden in der Pflege schon eingesetzt

Was testen Sie noch so?
Wir schauen uns viel an. Es gibt Pflaster, die registrieren, wenn jemand stürzt und einen Notruf aufs Handy schicken. Zur Zeit testen wir auch eine digitale Aufstehhilfe. Sie wird neben den Menschen gelegt, wenn er gestürzt ist, und schiebt sich zusammen, so dass der Mensch wieder aufgerichtet wird. Aber auch davor haben sie Angst. Sinnvoll sind nur getestete Unterstützungsmöglichkeiten, die den Alltag erleichtern. Wir hatten auch mal einen kleinen Roboter, der auf dem Tisch tanzt.

Und? Kam der gut an?
Anfangs ja, aber das Interesse hat schnell nachgelassen.

Als Sie angefangen haben, lag der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund bei drei Prozent. Wie ist es heute?
Vor zehn Jahren haben wir bewusst das Thema Vielfalt eingeführt. Wir haben uns zum Beispiel gefragt, wo eigentlich die ehemalige Gastarbeitergeneration geblieben ist? Durch Umstrukturierungen und Umbauten liegt der Anteil heute bei etwa zwölf Prozent.

Münchenstift: Eigenes Wohnhaus für Mitglieder der LGBTI*-Community

Homosexuelle und Transmenschen sind explizit willkommen im Münchenstift.
Ja, dieses Jahr wird das Regenbogenhaus für Bewohner aus der LGBTI*-Community fertig. Wir haben seit Jahren ein großes Programm, sind mit einem eigenen Wagen auf dem CSD, arbeiten mit der Aidshilfe zusammen. Es gibt viele aus der Regenbogencommunity, die wenn sie alt werden, interessiert daran sind, einen Platz zu finden, wo sie frei leben können. Gerade alte, schwule Männer haben furchtbare Erfahrungen gemacht und Angst, im Alter wieder isoliert zu werden. Das Queerquartier am Herzog-Ernst-Platz ermöglicht ein selbstbestimmtes Leben im Alter mit sozialverträglichen Mieten.

Was kostet ein Platz im Münchenstift?
Ein Pflegeplatz liegt bei durchschnittlich 4.500 bis 5.000 Euro – je nach Pflegegrad – der Eigenanteil liegt bei etwa 3.500 Euro. Wenn man hier länger wohnt als drei Jahre, zahlt man deutlich weniger: nur 25 Prozent.

Und was kostet ein Apartment oder eine kleine Wohnung?
Wir haben zwei Häuser mit einfachstem Standard aus den 70er Jahren für selbstständiges Wohnen. Da kostet ein Apartment gute 500 Euro. Von solchen Häusern könnte ich noch zehn füllen, da ist die Nachfrage riesig. Andere Häuser wie das Bürgerheim in der Dall'Armistraße oder das Mathildenstift sind mit 1.200 Euro für eine 2-3-Zimmer-Wohnung deutlich teurer. Dort wohnen fast ausschließlich Selbstzahler. Und dann gibt es noch Serviceapartments nur für Selbstzahler, die kosten 1.800 bis 2.500 Euro. Da ist das Mittagessen dabei und vorübergehend ambulante Hilfe bei Krankheit.

Alle sind im Münchenstift willkommen

Wie hoch ist der Anteil der Sozialhilfeempfänger?
Bei zirka 40 Prozent. Die anderen 60 Prozent sind Selbstzahler. Das ist seit Jahren etwa so. Für uns ist das nicht relevant, wir schauen da nicht darauf, wir nehmen alle.

Sie sagen, Jammern hilft nicht weiter. Kritik haben Sie doch bestimmt trotzdem?
Es war ein Fehler, überhaupt eine Pflegeversicherung einzuführen. Pflege muss ein Teil der Daseinsvorsorge sein. Sie sollte eigentlich insgesamt gemeinnützig sein und darf nicht auf Rendite aus sein. Außerdem müsste eine Deckelung her, alle Kosten darüber hinaus müsste die Gesellschaft tragen. Denn die gestiegenen Gehälter beispielsweise zahlen letztlich immer die Bewohner. Wir hatten in den vergangenen fünf Jahren Tariferhöhungen von 34 Prozent, damit sind die Kosten für die alten Menschen um 24 Prozent gestiegen. Das wird bald nicht mehr leistbar sein.

Nach dem schönsten Tag habe ich schon gefragt, was war Ihr schlimmster?
Der schwerste Tag war der Karfreitag 2020, als ein Hausleiter anrief und sagte, dass in einem Haus Corona ausgebrochen ist. Das war der Anfang, damit begann die schwierigste Phase in der Geschichte des Unternehmens. Es gibt Mitarbeiter, die bis heute wie traumatisiert sind.

Siegfried Benker: Das sind die Lehren aus der Pandemie

Wie viele Bewohner sind an Covid verstorben?
Diese Zahl sage ich nie. Da bin ich stur. Wenn auf den Intensivstationen Patienten starben, hieß es immer, man habe um sie gekämpft. Wenn in den Pflegeheimen Menschen starben, hieß es, wir hätten versagt.

Sie haben die Häuser sehr früh abgeriegelt, früher als andere. Gibt es etwas, was Sie heute etwas anders machen würden?
Es war richtig, früh dichtzumachen. Am Anfang wusste ja niemand, was kommt. Aber die Häuser waren zu lange dicht. Das hat dazu geführt, dass alte Menschen in erheblichem Maße abgebaut haben und sie die Angehörigen nicht mehr erkannt haben. Wir hätten Monate früher wieder öffnen müssen. Man darf die alten Menschen nicht wieder so lange wegsperren, das darf nicht mehr geschehen.

Falls Sie mal Pflege brauchen, würden Sie ins Münchenstift ziehen?
Als ich angefangen habe, war mein Anspruch, den Menschen die Angst vor dem Pflegeheim zu nehmen. Heute fühle ich mich bei dem Gedanken auf jeden Fall sehr viel wohler als vor zehn Jahren. Das hört sich jetzt so an, als müsste ich das sagen – wer will schon ins Pflegeheim? Aber es stimmt. Ich denke, da habe ich eine Menge erreicht.

Politik versus Geschäftsführung: Was war für Siegfried Benker herausfordernder?

Sie waren 16 Jahre Fraktionsvorsitzender der Grünen im Rathaus, dann Chef eines Unternehmens mit 2.000 Mitarbeitern und 3.000 Bewohnern. Wie weit sind die Tätigkeiten voneinander entfernt?
Die Politik ist etwas abstrakter, aber auch da geht man mit großem Ernst dran und steht im Feuer. Letzten Endes steht man am Schluss aber nicht so in der Verantwortung wie als Geschäftsführer eines Unternehmens.

Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin Renate Binder?
Dass sie mit viel Energie und guten und mutigen Entscheidungen weiter alle anstehenden Themen umsetzen kann und immer die Nerven behält. Und dass sie vom hervorragenden Führungsteam der Münchenstift genauso unterstützt wird wie ich – aber da mache ich mir keine Sorgen.

Jetzt kommt der Ruhestand. Worauf freuen Sie sich?
Darauf mehr Zeit zu haben. Ich will mehr mit meiner Freundin wandern gehen, auch mal spontan nach Südtirol. Und ich möchte wieder öfters in Fitnessstudio.


AZ-Interview mit Siegfried Benker: Der 66-Jährige ging früher viel auf Demos, unter anderem gegen Wackersdorf und Neonazis. 16 Jahre war er Fraktionsvorsitzender der Grünen/Rosa Liste im Rathaus. 2013 wechselte er auf den Chefposten des Münchenstift. Benker hat drei Töchter.

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