Münchens Stadtpfarrer Rainer Maria Schießler: "Ich habe keinen Silbereisen-Club voller Senioren"

München – Die katholische Kirche verliert immer mehr Mitglieder. Im vergangenen Jahr waren es laut Statistik der Deutschen Bischofskonferenz mehr als 700.000. Insbesondere Jugendliche scheinen der Kirche den Rücken zu kehren.
Im Interview mit der AZ spricht der Münchner Stadtpfarrer Rainer Maria Schießler darüber, was die Kirche wirklich zu bieten hat, wie sie junge Menschen zurückgewinnen kann und ob der Sonntagsgottesdienst noch eine Zukunft hat.
AZ: Herr Schießler, wie viele Jugendliche kamen zu Ihrer letzten Sonntagsmesse?
RAINER MARIA SCHIEßLER: Ich habe bei mir viele Familien mit Kindern und keinen Silbereisen-Club voller Senioren. Aber natürlich haben wir gerade die zwischen 17 und 25 Jahren verloren. Es war aber schon immer so, dass man sich in der Jugend von der Kirche entfernt hat. Spätestens wenn sie heiraten oder ihre Kinder taufen, treffe ich die Menschen dann oft wieder. Deshalb jammere ich nicht, wenn sie weg sind, sondern freue mich, wenn sie wieder kommen.
"Wir sind kein Fußballstadion und kein Automobilclub": Was kann die Kirche noch bieten?
Wenn ein 17-Jähriger zu Ihnen in die Kirche kommt und fragt, was die Kirche vor Ort ihm bieten kann, was sagen Sie?
Ich frage erst einmal, was er sucht, wen er sucht und wie sein Leben aussieht. Es muss ein Gespräch entstehen. Das Erste, was ich bieten kann, ist eine Sinnes- und Geistesgemeinschaft. Wir sind zwar kein Fußballstadion, aber dafür ist dort das Spiel nach 90 Minuten vorbei – bei uns geht es weiter. Wir sind aber auch kein Automobilclub und sagen: Hier ist unsere Leistungspalette, suche dir etwas aus.
Sie haben in Ihrer Gemeinde einen Jugendchor und ein Straßenfest – sind das Angebote, die Jugendliche erreichen können?
Sicher, wir wollen zeigen das ist die Kirche. Vor Kurzem war ich mit einer Jugendgruppe in Venedig – davon werden die noch jahrelang reden. Wir sind ausgebildete Pädagogen, Kultur-Förderer und wollen den Jungen auch eine gewisse Entspannung bieten. Wir sind eben nicht, wie viele denken, dieser Päderasten-Club aus lauter notgeilen Pfarrern.
Laut jüngsten Studien haben Jugendliche immer mehr mit mentalen Problemen zu kämpfen. Müsste die Kirche in Zukunft nicht genau da ansetzen?
Das glaube ich nicht. Ich erlebe in meiner Kirche junge Menschen, die dermaßen souverän und widerstandsfähig sind. Sie haben die Pandemie überstanden. Von Problemen kann da nicht die Rede sein. Die anderen bekomme ich leider nicht mit.
Pfarrer Rainer Maria Schießler glaubt, dass die Kirche Kindern keine Antwort schuldig bleibt
Die Probleme bestehen dennoch. Wieso versuchen Sie nicht, die übrigen zu erreichen?
Ich kann nicht mehr tun, als sie einzuladen und ihnen zuzuhören. Ich habe mich den jungen Menschen schon angepasst. Bei der Firmung findet zum Beispiel kein klassisches Beichten mehr statt, sondern ein persönliches Gespräch.
Müsste es mehr solche persönlichen Beratungsangebote geben?
Ich stehe von Montag bis Samstag für Gespräche zur Verfügung. Da kann jeder kommen, der will.
Laut der Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2019 denken 59 Prozent der katholischen Kinder, dass die Kirche keine Antwort auf die Fragen hat, die sie bewegen.
Ein Kind kann uns alle Fragen stellen. Wir bleiben da nichts schuldig.
"Am Sonntag geht es einfach nur darum, dass man zusammen Gast am Tisch Gottes ist"
Sie machen also alles richtig?
Nein, wir haben vor Ort vieles auch schon aufgelöst. Was die Jungen sonst bemängeln, ist etwa die überhöhte Sprache oder die konfessionelle Trennung. Da können wir in der Gemeinde nicht viel machen. Dennoch müssen wir uns damit zumindest beschäftigen.
Hat ein klassischer Sonntagsgottesdienst noch Zukunft?
Am Sonntag geht es einfach nur darum, dass man zusammen Gast am Tisch Gottes ist. Das ist und bleibt für die Menschen wichtig. Das versuchen wir auch den Jugendlichen zu vermitteln.
Zur Person: Der 62-Jährige leitet seit über 30 Jahren die Pfarrei St. Maximilian im Münchner Glockenbachviertel. Der Pfarrer gilt als unkonventionell und lebt mit einer Frau zusammen.