Münchens Mister Oberschenkel

Ercan Demir (41) war Europameister und Vizeweltmeister im Bodybuilding. Jetzt erzählt ein Film seine Geschichte. Beim FC Bayern sollte er in einer Bäckerei arbeiten.
von  Natalie Kettinger
Ercan Demir in den 90er Jahren. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere gewinnt er nicht nur viele Meisterschaften, er lässt seine Muskeln auch in Nachtclubs spielen.
Ercan Demir in den 90er Jahren. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere gewinnt er nicht nur viele Meisterschaften, er lässt seine Muskeln auch in Nachtclubs spielen. © privat

Patsch. Ercan Demir schlägt ein Ei auf, fängt das Eigelb mit der Schale auf und lässt den milchigen Rest in eine Plastikschüssel flutschen. Patsch, das nächste. Und noch eins. Patsch, patsch, patsch. So lange, bis der Zehnerkarton leer ist. Der 41-Jährige mischt Haferflocken unter das Eiweiß, ein Eigelb und zwei Löffel Proteinpulver mit Lemon-Quark-Geschmack. Dann kippt er den bröseligen Teig in eine heiße Pfanne. „Haferflockenkuchen“ nennt er das, was dabei herauskommt. Sein Frühstück.

Der bullige Mann mit dem freundlichen Lächeln ist Bodybuilder, ihm gehört das Studio „Ercans Body Gym“ im Dreimühlenviertel. Er war achtmal türkischer Meister, Juniorenweltmeister, Europameister, Vizeweltmeister. Und er kann noch sehr viel mehr essen: Vor eineinhalb Jahren, während der Vorbereitung auf die Senioren-WM, waren es ein Kilo Fleisch, 30 Eiweiß, ein Kilo Quark, 700 Gramm Reis und 200 Gramm Haferflocken. 5500 Kalorien. Täglich.

Der Film „Pumping Ercan“, der heute im Arri-Kino (17Uhr) und dem BR (23.25Uhr) läuft, erzählt von dieser Zeit – und von einem ehrgeizigen Einwanderer-Buben, der es in seiner Sportart ganz nach oben schafft.

Der FC Bayern lockt ihn mit einer Lehrstelle in einer Bäckerei

Ercan ist zehn Jahre alt, als seine Eltern ihr Dorf in West-Anatolien verlassen und mit ihren drei Kindern nach München ziehen. „Mein Vater hat damals bei Zündapp eine Stelle bekommen. Er war einer der ersten türkischen Gastarbeiter hier“, erzählt der Sohn. Der Kleine kann anfangs zwar kein Deutsch, aber er kann Fußball spielen. Besser als andere, viel besser.

Die Eltern melden ihn beim „TSV Turnerbund“ an, doch dem Traditionsverein bleibt sein türkisches Nachwuchstalent nicht lange erhalten: Erst holen die Löwen den Mittelfeldmann in ihre Jugend, dann locken ihn die Bayern – mit einer Lehrstelle bei einem Schwabinger Bäcker – an die Säbener Straße.

Der Traum von der Profi-Karriere, für Ercan Demir scheint er wahr zu werden. Bis zu diesem Spiel, als er lossprinten will in die gegnerische Hälfte – und plötzlich von einem stechenden Schmerz im rechten Bein zu Boden geworfen wird. Der 16-Jährige glaubt an einen Krampf, die Diagnose ist verheerend: Kreuzbandriss. Das war’s. Ercans Fußballer-Karriere ist beendet, bevor sie richtig begonnen hat. „Nach so einer OP zurückzukehren war damals aus eigener Kraft fast nicht möglich“, sagt er.

In der Reha trifft der frustrierte Teenager eine erstaunliche alte Dame. „Sie hat mich aufgebaut. Du musst trainieren, du musst weitermachen, hat sie gesagt und: Geh in ein Fitnessstudio – das war der Beginn vom Bodybuilding.“

Er trainiert bei Antonio Travato in der Ehrengutstraße, Jahre später wird er ihm das Studio abkaufen. „Wir waren eine Clique von 15 Jungs, die aus verschiedenen Sportarten kamen und alle gesagt haben: Wir wollen Weltmeister werden.“ Dafür quälen sie sich, stemmen stundenlang Gewichte, füttern ihre Muskeln mit Proteinen, verzichten auf Fett, Schokolade und Döner. Beim Bodybuilding, sagt Ercan Demir, müsse sich 24 Stunden pro Tag alles um den Sport drehen. „Sonst kommst du nicht weiter.“

Der junge Einwanderer kommt weiter. Mit 18 gewinnt er die Münchner Meisterschaft, er wird Süddeutscher Meister – und er will mehr: Ercan Demir möchte Jugend-Weltmeister werden. Für die Türkei, weil es dort weniger erfolgreiche Bodybuilder gibt, als in Deutschland. Seine Eltern sind skeptisch. Er solle lieber Geld verdienen, schließlich wolle die Familie irgendwann zurück nach Anatolien, sagen sie. Der 19-Jährige fliegt trotzdem zur WM nach Sao Paolo – und gewinnt.

In acht Monaten steigt sein Gewicht von 100 auf 123 Kilo

„Als ich wieder zu Hause war, kam ein Reporter der türkischen Zeitung ,Hürriyet’ zu uns und hat mich interviewt. Von diesem Moment an hat mein Vater jeden Bericht über mich ausgeschnitten und in seiner Tasche mit sich herumgetragen. Das war eine Bestätigung für mich.“ Endlich. „Jetzt bin ich angekommen, habe ich gedacht.“

Die Tasche des Vaters wird dicker und dicker, weil der Sohn einen Titel nach dem anderen holt. Seine Beine sind so voluminös, die Muskeln unter der Haut so deutlich zu sehen, dass die Konkurrenz ihn ehrfürchtig „Mister Oberschenkel“ nennt. Er schließt Werbeverträge ab, tritt in Nachtclubs und Diskotheken auf und kauft 1999 das Studio, in dem alles begann. Voller Stolz bringt er über der Tür das Schild: „Ercans Body Gym“.

Dann verletzt er sich erneut. Beim Training in der Beinpresse reißt der Bizeps im rechten Arm. „Das war das Ende vom Bodybuilding.“ Innerhalb von zwei Wochen hätte der Muskel wieder zusammengenäht werden können. Doch Ercan Demir lässt die Zeit ungenutzt verstreichen. „Direkt nach der Verletzung hat der Arm viel besser ausgesehen als vorher. Er war wahnsinnig dick.“ Als das Gewebe einsinkt, ist es zu spät für eine OP. Seitdem hat der Vize-Weltmeister von einst eine Delle im Oberarm. Die Symmetrie seines Körpers, ein wichtiges Kriterium beim Bodybuilding, ist für immer zerstört.

Jetzt ist Ercan Demir nur noch einer von vielen Fitness-Studio-Besitzern in München. Allerdings einer mit Geschichte – und derjenige, bei dem Kameramann Michael Reithmeier trainiert.

2010 starten die beiden ein gemeinsames Projekt. Ercan Demir will es noch einmal wissen und bei der Senioren-Weltmeisterschaft in Antalya antreten. Die Delle am Oberarm stört da nicht. „Bei den Senioren sind alle irgendwie gezeichnet“, sagt er. „Wenn man Tonnen von Gewichten gestemmt hat, geht das nicht spurlos an einem vorbei.“ Reithmeier und zwei Kollegen werden das Comeback filmen.

 

"Man tut fast alles, um eine Meisterschaft zu gewinnen"

Die Aufbauphase dauert acht Monate. Acht Monate, in denen der 1,73-Meter-Mann täglich 5500 Kalorien zu sich nimmt und sein Gewicht von 100 auf 123 Kilo steigt. Muskelmasse hat er jetzt genug, nur „Streifen“ sind kaum welche zu sehen.

„Streifen“ sind die Währung der Szene. „Sie zeigen die Härte des Körpers und wer am meisten gelitten hat“, erklärt der Profi. Wer Streifen hat, bei dem ist jeder Muskelstrang einzeln zu sehen.

Um dieses Ideal zu erreichen, muss möglichst viel Wasser und Fett ausgeschieden werden. Deshalb halten Bodybuilder in den letzten Wochen vor einem Wettkampf streng Diät – und quälen sich stundenlang an den Geräten. „Das ist die Hölle“, sagt Ercan Demir.

„Wenn man keine Energie mehr hat, muss man am meisten leisten, damit die Muskeln definiert werden.“ Jeden Tag schwitzt er nun sechs bis acht Stunden im Studio, stemmt in der Beinpresse bis zu 450 Kilo, macht 150 Kniebeugen am Stück und mindestens eine Stunde Kardio-Training. Seine Nahrung misst er aufs Gramm genau ab. Wenn er morgens aufwacht, ist sein Kopfkissen oft feucht, weil er von Essen geträumt hat und ihm das Wasser im Mund zusammengelaufen ist. Er verliert rund 30Kilo.

Doping? „Man tut fast alles, um eine Meisterschaft zu gewinnen“, sagt er. Manche Bodybuilder helfen dem Muskelaufbau mit legalen Mitteln wie Tribulus nach, einer Art pflanzlichem Testosteron. Aber es gibt auch andere.

„Diese Branche ist milliardenschwer“, sagt Ercan Demir. Doch wer dopt, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch die Kollegen. „Bei jeder Amateurmeisterschaft gibt es Kontrollen. Wird jemand positiv getestet, wird der gesamte Landesverband gesperrt.“

Die Senioren-WM ist mittlerweile Vergangenheit (das Ergebnis sei hier aus Rücksicht auf die Film-Zuschauer nicht verraten). An Wettkämpfen nimmt nur noch Ercans Freundin Matina Theodorou (38) teil. Die dreifache Mutter ist Deutsche Meisterin in der schlanken Fitness-Klasse und der Bodybuilding-Veteran sehr stolz auf sie.

In zwei Jahren will er sein Studio verkaufen und mit ihr in die Türkei ziehen. Er träumt von einem Haus am Meer und zwei Hunden. Geld interessiere ihn nicht mehr, sagt der 41-Jährige. Er habe genug verdient. „Wenn ich bescheiden lebe, wird es reichen.“ Ercan Demir möchte endlich Zeit haben – für sich, seine Freunde, die Familie. „Ich will Zeit-Millionär sein.“

„Pumping Ercan“, Arri-Kino: Dienstag, 17Uhr, BR: 23.25 Uhr

 

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