München vor 50 Jahren: Der Kampf geht weiter

München vor 50 Jahren: International vernetzte Stadtguerilleros rüsten im Untergrund gegen Imperialismus und Kapitalismus – als Vorhut greifen arabische Terroristen an.
von  Karl Stankiewitz
Nach dem Attentat im Februar 1970 am Flughafen Riem: Polizeipräsident Manfred Schreiber (l.) und sein Vize Wolf am Tatort.
Nach dem Attentat im Februar 1970 am Flughafen Riem: Polizeipräsident Manfred Schreiber (l.) und sein Vize Wolf am Tatort. © Heinz Gebhardt

München vor 50 Jahren: International vernetzte Stadtguerilleros rüsten im Untergrund gegen Imperialismus und Kapitalismus – als Vorhut greifen arabische Terroristen an.

Am 19. Februar 1970 kommt der neue Terror ins Parlament. "Wir alle müssen Sorge tragen, dass Bayern und seine Hauptstadt nicht zum Tummelplatz hemmungsloser, verbrecherischer Elemente wird", warnt Landtagspräsident Rudolf Hanauer. In diesem Moment fällt ein Stück der Glasdecke ins Plenum, Splitter treffen Hinterbänkler der SPD. Schon wieder ein Attentat?

Nach erster Aufregung und Untersuchung klärt sich auf, dass nur ein oben operierender Rundfunktechniker gestürzt ist. Ministerpräsident Alfons Goppel kann fortfahren: "Spontane Reaktionen der Bevölkerung bekräftigen die Staatsregierung, allen radikalen Fanatikern auf bayerischem Staatsgebiet das Handwerk zu legen."

Landtagspräsident Rudolf Hanauer warnt 1970 im Landtag: "Nicht zum Tummelplatz verbrecherischer Elemente werden."
Landtagspräsident Rudolf Hanauer warnt 1970 im Landtag: "Nicht zum Tummelplatz verbrecherischer Elemente werden." © imago

Keine leichte Aufgabe. In Bayern sind damals rund 300 Ausländervereinigungen bekannt, von denen sich etwa 30 "extrem politisch" betätigen. Sie sollen fortan schärfer überwacht werden, sagt Innenminister Bruno Merk (CSU). Insgesamt seien im Freistaat fast eine Million ausländische Staatsbürger gemeldet. Dazu komme "eine beträchtliche Zahl von Illegalen". Diese sollen, was Merk schon veranlasst hat, ermittelt und notfalls abgeschoben werden.

Schlagstöcke, Schlachtrufe und Fäuste

Diese sind es denn auch, von welchen die nächste Welle der Gewalt ausgeht. Gegen heftigen Widerstand von 600 jugendlichen Demonstranten und linken griechischen Gastarbeitern erkämpfen 400 Polizisten, angeführt von ihrem liberalen Präsidenten Manfred Schreiber (noch SPD), am 2. Mai etwa 300 regimetreuen Griechen den freien Zugang zu einem Saal, wo die in Athen herrschende Militärjunta gefeiert werden soll. Der Wirbel von Schlagstöcken, Schlachtrufen und Fäusten hinterlässt je elf Verletzte und Festgenommene. Der scheinbar abgeklungene Jugend- und Studentenprotest hat damit eine neue Dimension erreicht.

Ministerpräsident Alfons Goppel warnt 1970 im Landtag: "Fanatikern in Bayern das Handwerk legen."
Ministerpräsident Alfons Goppel warnt 1970 im Landtag: "Fanatikern in Bayern das Handwerk legen." © imago

Hatten sich seine supranationalen Attacken bisher im Wesentlichen gegen die "schmutzigen Kriege der Amerikaner" in Südostasien gerichtet (über deren Beendigung zu dieser Zeit auf internationaler Ebene verhandelt wird), so dehnen sie sich jetzt auf autoritäre Staatsstrukturen überall auf dem Globus aus. Allerdings: Die "sozialistische" Welt bleibt komplett verschont.

Heißes Pflaster München

Außerdem hat sich, nicht nur wegen der "Griechen-Schlacht", in der Bevölkerung allgemein eine bisher nicht gekannte Aversion gegen Ausländer verbreitet. In der olympisch gestimmten "Weltstadt mit Herz" werden Rufe nach Verschärfung des Polizeigesetzes laut. "Heißes Pflaster München" betitelt der sozialdemokratische "Vorwärts" meine Reportage zur Lage vor Ort, während "Bild" wie seit den 68er-Unruhen weiter hetzt: "Jagt sie, bis sie hinter Schloss und Riegel sitzen!"

Dass es nicht zur Eskalation, zu größeren Unruhen kommt, liegt vor allem an der seit den Schwabinger Krawallen vom Sommer 1962 aufgelockerten Taktik der Polizei, aber auch an einer informellen Bürgerrunde, die sich öfter in der Grütznerstube des Neuen Rathauses trifft. Initiator und Moderator ist Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel.

Informelle Bürgerrunde 

Teilnehmer sind die Partei- und Gewerkschaftsvorsitzenden, die Chefredakteure der Münchner Zeitungen, der Stadtpfarrer, die Rektoren der Hochschulen und Nobelpreisträger Werner Heisenberg, der München kennt und liebt.
Zufrieden kann Vogel zwei Jahre später in seinen Amts-Erinnerungen feststellen: "Sogar Fritz Teufel, der in anderen Städten noch immer für einen Krawall gut war, brachte in München nichts mehr auf die Beine."

Die Polizei muss den Politclown allerdings am 12. Juni wegen versuchter Brandstiftung beim Leeren eines Briefkastens festnehmen. Schreiber, der sich gern "Sheriff" nennt, möchte den umtriebigen "Deifi" näher kennenlernen. Daher trinkt er, wie er mir später verrät, mit dem vorübergehend Festgenommenen in der Zelle der Ettstraße einen Whisky. Schluss jetzt mit lustig?
Im Münchner Untergrund haben sich neue, schlagkräftigere, diszipliniertere Gruppen organisiert, nachdem sich der bislang tonangebende, dann ideologisch zerrissene Sozialistische Deutscher Studenten–bund, berüchtigt unter dem Kürzel SDS, im März 1970 bei einem Treffen in München aufgelöst hat.

"Stadtguerilla" und "Schülerfront" machen mobil

Die Neuen sehen sich als "Stadtguerilla". Sie kopieren lateinamerikanische Vorbilder und nennen sich etwa "Rote Garden" oder "Spartakus", sogar eine "Schülerfront" macht mobil. "Ihre Aktionen waren überlegter, besser geplant und deshalb gefährlicher," kommentiert fast lobend der involvierte Doktor Vogel, der sich zudem mit seinem neu gewählten, linken Unterbezirksvorstand und mehr noch mit den ultralinken Jusos seines späteren Nachfolgers Christian Ude herumschlagen muss.

Die aktivsten und geheimnisvollsten Guerilleros aber sind die "Tupamaros", die ihren Namen von Untergrundkämpfern in Uruguay entliehen haben. Monatelang treiben sie an der Isar ihr Unwesen, ohne je richtig erkannt oder gar gefasst zu werden. Zu ihnen bekennt sich auch der bereits radikalisierte Spaßvogel Fritz Teufel. Mehrere Brandanschläge auf Justizgebäude, Lehrlingswerkstätten, ein amerikanisches Shopping Center und den US-Konsul werden den Tupamaros zugeschrieben.

"Macht kaputt, was euch kaputt macht!"

Meist hinterlassen die in politische Mäntelchen gehüllten Kleinkriminellen revolutionäre Sprüche wie das oft nachgeplapperte "Macht kaputt, was euch kaputt macht!"
Sogar die Pop-Kommunarden Rainer Langhans und Uschi Obermaier werden von ihren ehemaligen Gesinnungsgenossen erpresst; als "Knechte des Kapitals" müssen sie 2.500 Mark in deren Kriegskasse einzahlen.

OB Hans-Jochen Vogel erinnert sich später: "Sogar Fritz Teufel
brachte in München nichts mehr auf die Beine."
OB Hans-Jochen Vogel erinnert sich später: "Sogar Fritz Teufel brachte in München nichts mehr auf die Beine." © imago

Die Münchner Redaktion einer Nachrichtenagentur erhält ein Schreiben, womit die Unbekannten die Entführung der Fußballstars Franz Beckenbauer und Uwe Seeler ankündigen. Selbst Razzien in Zentren von Ultralinken bringen die Polizei nicht auf die Spur. So sollen die Tupamaros gleichsam als Phantom in die Münchner Geschichte eingehen.

Drohbriefe gegen Franz Beckenbauer und Uwe Seeler 

Am 7. August führen 500 Studenten einen Marsch an, der die "Verschärfung des Terrors durch das Schah-Regime" noch einmal aufspießt.
Hingegen will Amnesty International, wie der Münchner Bundeskongress beschließt, politischen Gefangenen nur dann beistehen, wenn sie weder Gewalt angewendet noch dazu aufgerufen haben. Jüngere AI-Mitglieder fordern die Gründung eines "Internationalen unabhängigen Indianer-Komitees". Franz Josef Degenhardt begeistert die Jugend mit knallroten Kampfliedern wider die neuen Kriege in der Dritten Welt.

Politiker und Medien ordnen alle diese Aktivitäten – nach dem damaligem Koordinatensystem – pauschal und eindeutig links ein. Dabei werden auf der äußersten Rechten ähnliche Tendenzen sichtbar.
Neben der NPD, die seit 1966 im Landtag sitzt, agitieren offen oder im Dunkeln zahlreiche rechtsradikale Gruppen. München soll wohl wieder "Hauptstadt der Bewegung" werden. Dazu dienen Kundgebungen, drohende Flugblätter, antisemitische Schmierereien, Presse- und Plakataktionen.

An der Grenze zwischen Widerstand und Terror

Im September 1970, beim Weltkongress für Politische Wissenschaften in München, wagen Verfasser einer im Hochschulbereich recherchierten Studie eine kühne und weitblickende These: Neben der Neuen Linken werde bald auch eine Neue Rechte entstehen. Diese werde sich keinesfalls als systemerhaltend verstehen, sondern ebenfalls als politische Opposition. Viele Liberale der Alten Linken, denen die neuen Inhalte zu radikal erschienen, würden zu ihr überlaufen und sich mit Konservativen verbünden, die ebenfalls zu fundamental neuen Problemstellungen finden könnten.

 


Der Verfasser dieses Beitrags verwendete Teile seines "Weiß-blauen Schwarzbuches" und "München 68" (beide Volk Verlag erschienen). Darüber hinaus nutzte der Autor teilweise Material aus seinem im AZ-Verlag erschienenen Reportageband "Münchner Meilensteine".

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