München: Rollstuhlfahrer eine Gefahr für die Allgemeinheit?

München - Für den bekannten Pflege-Experten Claus Fussek ist der Prozess gegen den Rollstuhlfahrer Jürgen S. (73) vor dem Münchner Landgericht ein Skandal: „Ich kann nicht verstehen, dass man einen schwerkranken Menschen in einer gefängnisähnlichen Situation unterbringt. Ich halte das für unmenschlich!“
Der Ex-Studienrat, der kaum sprechen und nur zitternd mit beiden Händen seine Schnabeltasse halten kann, ist seit dem 5. September in einem Hochsicherheitstrakt der Psychiatrie in Haar für kranke Schwerverbrecher untergebracht. Besuch darf er nur zweimal pro Woche für eine Stunde empfangen.
Laut Anklage ist er mit den Fäusten und einer Gabel auf Freundin Christine Sch. (77) losgegangen. Der Grund: Wegen seiner Demenz-Erkrankung ist er eifersüchtig. Er habe geglaubt, dass sie im Keller ihres Hauses Männer verstecke, die sich nachts zu ihr schleichen. Christine Sch. ist völlig aufgelöst: „Er kann niemandem mehr weh tun. Als er mit der Gabel auf mich los ist, traf er mich zwar am Kopf. Aber nicht fest. Ich habe die Gabel gepackt, einfach umgebogen und ihn abgewehrt.“
Dabei verliert Jürgen S. das Gleichgewicht und kippt in die gläserne Küchentür. „Er konnte nicht mehr allein aufstehen, hat geblutet. Ich habe in meiner Not die Polizei gerufen. Das war ein Fehler. Die haben aus ihm einen Verbrecher gemacht. Ich wollte, dass er in eine Klinik kommt.“
Jetzt mahlen die Mühlen der Justiz. Die Staatsanwaltschaft München II zimmert aus dem für Christine Sch. „harmlosen Vorfall“ eine Antragsschrift wegen gefährlicher Körperverletzung und behauptet: „Infolge seines Zustandes sind von ihm erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten und er ist deshalb für die Allgemeinheit gefährlich.“
Als ein Justizwachmann den Angeklagten in den Gerichtssaal 262 schiebt, sieht man einen gebrechlichen, alten Mann. Allein aufstehen kann er nicht. Das Gericht erlaubt ihm, dass er in seinem Rollstuhl sitzen bleiben darf. Der Vorsitzende Richter Oliver Ottmann muss den Angeklagten anschreien, damit er reagiert.
Die Antworten sind kaum hörbar. Seine Verteidiger Bertold Braunger und Nico Werning müssen sie wiederholen. Einmal unterbricht Jürgen S., bittet darum, aufstehen zu dürfen, weil er Schmerzen im Sitzen hat. Allein kommt er nicht auf die Beine. Da springt Claus Fussek von der Zuhörerbank auf, stützt mit einem Wachmann den Angeklagten.
Fussek sagt: „Seine Freundin hat bereits einen Platz im Kursanaheim in Pullach. Es wäre ein Akt der Menschlichkeit, wenn man den Mann aus dem Gerichtssaal gleich dort unterbringen würde.“
Der Prozess dauert an.