München: Pflegerin hört auf und hat bittere Erkenntnis: "Man motzt sich gegenseitig an"

München - "Man kommt um 6.15 Uhr ins Stationszimmer, die Nachtschwester ist meistens nicht da, weil sie immer noch am Rennen ist. Die Patienten betätigen den Notruf. Kollegen stürmen auf einen zu und wollen etwas von einem. Und das alles vor der Schichtübergabe", schildert die ehemalige Fachpflegekraft Heike Herrmann (61) aus München den typischen Beginn einer Frühschicht. Für sie fühlt es sich an wie Krieg.
Die restliche Schicht arbeitete sie ohne Pause, sie lief durchschnittlich 20 Kilometer und verbrachte mehrere Stunden am Tag mit der Dokumentation. Der anschließende Feierabend: Erschöpfung und Übelkeit. Jetzt ist sie frühzeitig in Rente. Und damit kein Einzelfall: Laut dem Pflegereport der Barmer gehen durchschnittlich knapp vier Prozent in diesem Bereich in Frührente – 27 Prozent mehr als andere Berufstätige.
Ehemalige Pflegerin aus München packt aus: "Man lebt nicht gesund im Job"
Die Pflege hat sie kaputtgemacht. "Ich habe heute meinen Herzschrittmacher wegen zehn Jahren Nachtdienst", sagt Herrmann der AZ. Doch auch im Frühdienst sieht es nicht viel besser aus: "Man kommt immer müde zur Arbeit, egal wann man ins Bett gegangen ist." Mehr als die Hälfte der Pflegekräfte leidet wegen Stress unter körperlichen Symptomen und ein Drittel unter psychischen, wie aus einer Studie von Asklepios (Klinikbetreiber) hervorgeht.

Herrmann sagt: "Man lebt ja auch nicht gesund im Job." Am Ende des Tages bleibe keine Zeit für gesundes Essen, Zigaretten seien die einzige Ausflucht in eine kleine Pause und das viele Laufen erschöpfe. Der Stress im Pflegealltag wirkt sich laut der Ex-Pflegerin auch negativ auf die Arbeitsatmosphäre aus: "Man motzt sich gegenseitig an, weil man einfach nicht mehr kann."
"Müssen die Patienten quasi liegenlassen": Auch die Bürokratie setzt den Pflegekräften zu
Doch warum ist die Pflege so stressig? Das hat mehrere Gründe: Zum einen wäre da die "Flut an Bürokratie". "Ich habe zwischen zehn Uhr morgens und zwölf Uhr mittags nichts anderes getan, als diese blöden Bögen auszufüllen", ärgert sich Herrmann. Dadurch gehe kostbare Zeit verloren, mit dem Patienten zu reden, ein paar Schritte zu gehen, kurzum: zu pflegen. "Sie müssen die Patienten quasi liegenlassen", berichtet die Ex-Pflegerin.
Laut einer Studie sind 90 Prozent der Pflegekräfte durch überbordende Bürokratie belastet. Diese verschlinge durchschnittlich 42 Prozent der Arbeitszeit. Obendrauf müsse die Dokumentation geschönt werden. "Statt 'Herr Müller verweigert das Essen' muss es heißen: 'Herr Müller benötigt Hilfe beim Essen'", sagt Herrmann. "Alles für die Krankenkassen."
Die Münchner Ex-Pflegerin wünscht sich das Dokumentationssystem der 70er zurück
Auch Georg Sigl-Lehner von der Vereinigung der Pflegenden in Bayern bemängelt an der Dokumentation, dass diese immer mehr zu einer Nachweispflicht ausgeartet sei. Ihr eigentlicher Zweck sollte sein, die Pflege eines Menschen besser planen zu können, sagt er der AZ. Laut Brigitte Meyer, der Vorsitzenden der Freien Wohlfahrtspflege Bayern, braucht es dringend Bürokratieabbau.
Zur Entlastung könnten ihr zufolge auch "digitalisierende Maßnahmen" helfen, wie etwa Sensoren, die in Echtzeit Sturz- oder Bewegungsverhalten von zu pflegenden Personen erfassen und Gesundheitswerte unmittelbar in die Dokumentationssoftware übertragen könnten. Ex-Pflegerin Herrmann wünscht sich hingegen das Dokumentationssystem der 70er-Jahre zurück, bei dem lediglich Auffälligkeiten wie keine Essenseinnahme oder Fieber eingetragen wurden. Außerdem hält sie eine größere Verbreitung der "Mitteldienste" für sinnvoll: Dabei handelt es sich um Schichten, die sowohl Teile des Früh- als auch des Spätdiensts umfassen und bei der Dokumentation entlasten.
Fehlende Flexibilität erhöht den Druck auf die Pflegekräfte
Zum anderen ist laut Herrmann die Organisation der Arbeitsabläufe ein großer Stressfaktor: "Zwei Pflegekräfte pro Schicht für 20 Patienten. Einer ist für die zehn auf der linken, der andere für die zehn auf der rechten Seite zuständig. Sie haben ständig die Uhr im Hinterkopf." Durch die strenge Zuteilung würde Flexibilität fehlen – und so der Druck auf die einzelne Pflegekraft erhöht. Herrmann wünscht sich, dass die strenge Zuordnung von Pflegekräften zu Patienten gelockert würde.
Meyer von der Freien Wohlfahrtspflege Bayern geht hingegen davon aus, dass es dadurch keine Verbesserung geben würde. Das bayerische Gesundheitsministerium räumt ein, dass es diesbezüglich "Verbesserungspotentiale gibt". Erschwert wird die Arbeit laut Herrmann auch durch das sinkende fachliche Niveau. Eine vom Bundesgesundheitsministerium beauftragte Studie des Wirtschaftsforschungsinstitut Wifor ergab, dass fehlende Praxisanleitungen aufgrund des hohen Zeitdrucks sich negativ auf die Ausbildungsqualität auswirken.
Die Sprachbarrieren ausländischer Fachkräfte sind ein zusätzliches Problem
Auch der Anteil an examinierten Fachkräften sinkt (minus zwei Prozentpunkte), während die Pflegehelfer mehr werden (plus zwei Prozentpunkte), wie aus einem Bericht über die Arbeitsmarktsituation der Bundesagentur für Arbeit 2024 hervorgeht. Herrmann kritisiert vor allem die fachlichen Kenntnisse über die gängigste Krankheitsart in Pflegeheimen: Demenz (durchschnittlich 69 Prozent laut einer Studie).
Zu wenig werde in Ausbildung und Praxis zwischen den verschiedenen Demenzdiagnosen unterschieden. "Ein Patient mit Korsakow-Demenz verhält sich völlig anders als einer mit vaskulärer Demenz." Auch die Sprachbarrieren bei ausländischen Fachkräften bereiten im Praxisalltag Probleme. "Zwischen Kollegen missversteht man sich dann häufiger", berichtet Herrmann. Jede achte Pflegekraft kommt aus dem Ausland, wie aus einem Bericht der Bundesagentur für Arbeit hervorgeht.
"Wann machen sie den Sprachkurs?": Ausländische Pflegekräfte müssen besser integriert werden
"Da sind welche dabei, von denen habe ich noch viel lernen können", sagt Herrmann. Aber: "Jetzt haben sie Frühdienst, Spätdienst, Nachtdienst – wann machen sie den Sprachkurs?" Eine Fachkraft aus dem Ausland wird erst anerkannt, wenn sie eine Fachsprachenprüfung abgelegt hat. Bis dahin wird sie wie eine Hilfskraft bezahlt. Auf Anfrage der AZ teilt das Bayerische Gesundheitsministerium mit, dass es in die Verantwortung der Einrichtungen fällt, dass die Mitarbeiter über "ausreichende sprachliche Fähigkeiten verfügen".
Das sieht auch der Präsident der Pflegenden-Vereinigung Sigl-Lehner so: "Es liegt in der Verantwortung derjenigen, die sie anstellen, dafür zu sorgen, dass die Menschen gerne bei uns sind und sich integrieren." Meyer, die Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege Bayern, hält hierfür Integrationslotsen, also Personen, die beim Einleben helfen, für eine wichtige Ergänzung.
Mehr Gehalt löst die Probleme der Branche nicht
Doch selbst mit einer verbesserten Integration der ausländischen Fachkräfte ist der Personalmangel in der Pflege allein dadurch nicht zu lösen. Der Pflege-Beruf muss attraktiver werden. Wenngleich das gesellschaftliche Ansehen laut der Wifor-Studie hoch ist, berichten doch viele Pflegekräfte von einer geringen Wertschätzung ihrer Arbeit seitens der Vorgesetzten. Nur ein Drittel der Pflegekräfte würde den Beruf weiterempfehlen und unter Jugendlichen ist die Branche als zukünftiges Arbeitsfeld nur mäßig beliebt, wie aus dem Krankenhaus-Report 2023 hervorgeht.
Mehr Gehalt löst das Problem nicht, meint Ex-Pflegerin Herrmann. Auch Meyer von der Freien Wohlfahrtspflege Bayern berichtet, dass Gehalt für eine höhere Attraktivität des Berufs nicht an erster Stelle stehe. Stattdessen setzt sie auf eine Verbesserung der Planbarkeit. Die solle durch ein Modellprojekt gewährleistet werden, bei dem etwa durch sogenannte "Springerpools" der Ausfall von Personal besser aufgefangen werden soll, ohne andere Mitarbeiter an ihren freien Tagen um Hilfe bitten zu müssen, damit verlässliche Ruhezeiten garantiert werden können.
Entlastung der Pflegekräfte: Es braucht mehr Ressourcen in präventive Maßnahmen
Herrmann denkt, dass es mindestens einen freien Tag zwischen einem Früh- und Spätdienst geben müsste und dies mit den verfügbaren Arbeitern auch umsetzbar wäre. Meyer glaubt hingegen, die Personaldecke sei dafür zu dünn. Doch selbst wenn die Pflege attraktiver wird, kann das bestehende System laut Sigl-Lehner von der Vereinigung der Pflegenden nicht aufrechterhalten werden. Es braucht ihm zufolge mehr pflegefachliche Prävention. Das heißt: Pflegebedürftigkeit verhindern oder verlangsamen.
Diese steigt mit zunehmendem Alter rasant – rund zehn Prozent aller 70-Jährigen brauchen Pflege, bei den knapp 90-Jährigen sind es 43 Prozent der Männer und 61 Prozent der Frauen. Verhindern oder zumindest abbremsen lässt sie sich etwa mit Bewegungs- und Koordinationsübungen, um so die Selbstständigkeit zu fördern und Stürze zu vermeiden. Auch zeigen Studien in Bezug auf Ernährung sowie soziale Kontakte positiven Einfluss auf die Gesundheit im Alter. In der Pflege müssen laut Sigl-Lehner mehr Ressourcen in diese präventiven Maßnahmen fließen, um den Menschen ein selbstständigeres Leben im hohen Alter zu ermöglichen und das derzeitige System und seine Pflegekräfte zu entlasten.