München ohne Wiesn: Ein Prosit gegen die Wehmut

München - Es sind Geschichten wie diese, die erklären, warum die Wiesn heuer vielen Münchnern so schmerzlich fehlt, dass es ohne Ersatzwiesn einfach nicht geht.
Samstag im Hofbräuhaus am Platzl. Im Festsaal oben im zweiten Stock sitzen Gitti (60) und Werner Glauder (75). Fesch aufgmaschelt, sie mit eisblau schimmernder Dirndlschürze, er in Lederhosn.
Sie halten sich im Arm, sie strahlen, ein kleines, nein, ein ziemlich großes Glück haben die Zwei in den Augen. Es ist ihr 20. Kennenlerntag, den sie wie einen Hochzeitstag feiern. Weil ihre Liebe als Blitzliebe auf der Wiesn angefangen hat, im Schützenfestzelt damals.
"I hob obissn"
"I hob mir an Obazdn und Essiggurkn ghoid und bin damit am Tisch vorbei, wo lauter Polizistn warn", erzählt sie. "Do hod ma oana so in'd Augn gschaut, dass i gsogt hob: Mogst beißn?"
Er: "Und i hob obissn."
Angebissen hat er also, nicht nur die Essiggurke, sondern mit dem Herzen gleich dazu. Jeden Tag waren sie danach auf der Wiesn. Dass sie ausgerechnet zum Jubiläum heuer ausfällt ist "so schad". Aber "ein Gschenk", sagt sie, "dass es die Wirtshaus-Wiesn gibt".
Ein gemütliches Fest
Den kleinen, feinen Ersatz, bei dem 54 Wirtshäuser nun 16 Ersatzwiesntage lang Oktoberfestbier ausschenken, Wiesnschmankerl aufkochen und wenigstens ein bisserl Blasmusik aufbieten, wenn auch nur als Hintergrundmusik. Die Gäste im Hofbräu-Festsaal sitzen in breiten Abständen, die Kapelle auf der Bühne beschwingt, aber heizt nicht ein. Ein gemütliches Fest.
400 Meter Luftlinie entfernt, im Biergarten am Viktualienmarkt, sitzt Annamaria zusammen mit ihren Freunden Elisabeth und Sepp. Auch hier: breite Abstände zwischen den Tischen, Grüppchen, die lachen und sich am Sonnenschein freuen.
Annamaria ist Stammbedienung in der Hausbox vom Paulaner Festzelt, das heuer wie alle anderen nicht aufgebaut ist. "Das ist echt schlimm für uns ohne Wiesn", sagt sie, "nicht bloß für den Geldbeutel, ich hab da ja immer mein Urlaubsgeld dazuverdient, sondern fürs Herz auch. Mir fehlt der Zusammenhalt auf der Wiesn, das Freundschaftliche, das Wiesngfui halt."
Zamhocken "für den Zwischendurst"
"Traurig", sagt auch der Sepp, der über Jahre Dauerstammgast im Schottenhamel Festzelt war, "des san jetzt 16 Tage, wo ich ned weiß, was ich tun soll ohne Wiesn". Die Drei hocken ein bisserl zam hier "für den Zwischendurst", bevor sie rüber zum Nockherberg gehen, wo sie für die Wirtshaus-Wiesn Karten reserviert haben.
Auf der Bühne tut sich was, die kleinen Wiesnwirte trudeln ein, die am Morgen ihre Bierkutschen an der ehemaligen Luitpoldkaserne zusammen gebracht und aus Biertischen ein Riesenherz als "Gruß an die Welt" geformt haben (S. 4). Wirt Werner Hochreiter vom Steirer am Markt zapft ein Fass an, man versammelt sich kurz, ein Prosit gegen die Wehmut und die Krise - und fürs Münchner Gemeinschaftsgefühl.
Dann schwärmen alle wieder aus zu ihren Wirtschaften, wo überall, natürlich auch heute, ozapft wird.
Alt-OB Christian Ude macht's im Schiller Bräu, Ex-Bürgermeister Seppi Schmid im Augustiner am Dom, der Abgeordnete Wolfgang Stefinger in der Münchner Stubn, die Kabarettistin Luise Kinseher in der Hirschau und "München 7"- Schauspieler Andreas Giebel im Hackerhaus. "Wenn ich es heuer nicht im Wiesnzelt 'Zum Stiftl' machen kann, dann wenigstens hier", sagt er. Und: "Die Stimmung ist wunderbar und angenehm, trotz allem."
"Wunderbar, trotz allem"
Auf der Theresienwiese, die seltsam leer daliegt, abgesehen von ein paar Menschen in Tracht, Sportlern und Sonnenanbetern, ist inzwischen der "Wiesneinzug der Klimaheld*innen" eingetroffen - ein farbenfroher, fröhlicher Demozug, der am Morgen am Alten Botanischen Garten begonnen hat.

Nicht viel mehr als 500 Menschen sind dort gewesen, wird die Polizei später sagen, manche haben Brotzeit gemacht, es gab - weil die Stadt im Vorfeld auch hier ein Alkoholverbot ausgesprochen hat - nur alkoholfreies Bier. Gerade mal 20 Menschen habe man wegschicken müssen, hieß es, "die allermeisten waren vernünftig".
Ochs am Spieß im Hofbräuhaus
Die Bilanz der Wirte bringt auch eine Zahl, die so noch nie dagewesen ist: 126 Schläge hat es gebraucht fürs "Ozapft is" der Wirtshaus-Wiesn.
Von dem einen Schlag, den Brauerei-Chef Georg Schneider im Schneider Bräuhaus brauchte, bis zu Christian Udes acht. Alle Festzeltklassiker wie Hendl, Schweinshaxn und Steckerlfisch hat's gegeben.
Ochs am Spieß sogar im Hofbräuhaus, wo die "Ochsenbraterei" im Innenhof zu Gast war. Im Ratskeller tanzten Trachtenpaare von der Oidn Wiesn und vorm Bratwurstglöckl gab's Goaßlschnoiza.
Friedlicher Wirtshaus-Wiesn-Start
"Wir sind glücklich, wie schön und friedlich der Start der Wirtshaus-Wiesn verlaufen ist", sagt Innenstadtwirte-Sprecher Gregor Lemke.
Und während es dunkel wurde überm Nockherberg und dem Chinesischen Turm, spazierten Gitti und Werner Glauder noch Hand in Hand durch die Stadt.
An der Deutschen Eiche haben sie schließlich den Abend ausklingen lassen. Leise und gemütlich. Sie sagt: "Es war ein wunderschöner Hochzeitstag. Was für ein Traum."