München-Neuperlach: Die Stadt vor der großen Stadt

Bis heute verbindet man Neuperlach mit Hochhäusern, Geschäftsgebäuden und Wohnblocks. Bruno Tamborino, der heute in Italien lebt, erinnert sich in der AZ an seine Kindheit in einer der Hochhaussiedlungen.
von  Bettina Funk
Hat seine Kindheit in Neuperlach verbracht: Bruno Tamborino.
Hat seine Kindheit in Neuperlach verbracht: Bruno Tamborino. © privat

Bis heute verbindet man Neuperlach mit Hochhäusern, Geschäftsgebäuden und Wohnblocks. Bruno Tamborino erinnert sich in der AZ an seine Kindheit in einer der Hochhaussiedlungen.

München - Logik und Ordnung sind die beiden Schlagwörter, die Bruno Tamborino zunächst einfallen, wenn er sich an seine Kindheit in der Hochhaussiedlung Neuperlach erinnert. Das mag daran liegen, dass Neuperlach kein gewachsenes, heterogenes Stadtviertel ist – sondern eine Trabantenstadt, die nach dem Idealbild einer Stadt der Nachkriegsmoderne von Architekten und Stadtplanern aus Beton erschaffen wurde. Logisch und geordnet: mit klar strukturierten Fassaden und Straßen, auf denen Autos unkompliziert und schnell überall hinkommen sollten, zum Beispiel.

Tamborino wusste um Neuperlachs schlechtes Image

"Es gab Gutes und Schlechtes in meiner Kindheit", erzählt Bruno Tamborino. Geboren wird er als Kind italienischer Eltern 1969 in München, von 1974 bis 1987 wohnt Tamborino in Neuperlach. In dieser Zeit besucht er auch das Werner-von-Siemens-Gymnasium, ist deshalb täglich in Perlach Nord unterwegs. "Ich war mir bewusst, dass Neuperlach ein schlechtes Image hatte, habe aber recht wenig davon konkret erlebt", sagt er. In Erinnerung geblieben sind ihm die Freizeitaktivitäten. "Schwimmbad und Stadtbibliothek waren gratis, es gab verschiedene Vereine und Partys für Jugendliche," so Tamborino. "In Italien ist das undenkbar und ich glaube, selbst in Deutschland gibt es keine vergleichbare Situation mehr", sagt er.

Hat seine Kindheit in Neuperlach verbracht: Bruno Tamborino.
Hat seine Kindheit in Neuperlach verbracht: Bruno Tamborino. © privat

München wächst seit den 50er Jahren rapide – und hat ein Wohnungsproblem. Im Dezember 1957 wird der millionste Münchner geboren, seitdem ist München eine Millionen-Metropole. Am 11. Mai 1967 wird der Grundstein für das damals größte Wohnungsbauprojekt der Republik gelegt. Das Bild von Neuperlach prägen bis heute Hochhäuser, Wohnblöcke und Geschäftsgebäude. Mittlerweile leben in dem Viertel etwa 60 000 Menschen.

Anfang der 1960er sieht das noch anders aus. Um die Wohnungssituation in München zu verbessern, beschließt der Stadtrat 1960 den Bau sogenannter "Entlastungsstädte" – wie Neuperlach und Hasenbergl. Für den Bereich der Gemarkung Perlach erstellt das Baureferat zwischen 1961 und 1966 eine Planungsstudie und einen umfassenden Strukturplan für eine Satellitenstadt von zunächst 80 000 Einwohnern.

Gebäude aus Stahlbeton machen Münchner Stadtbild monoton

Hauptplaner Neuperlachs ist der Architekt Egon Harmann, mit der Bodenordnung und der Koordination der baulichen Umsetzung wurde das gewerkschaftseigene Unternehmen "Neue Heimat" beauftragt.

Anfang des 20. Jahrhunderts war eine neue Konzeption des Wohnungsbaus entwickelt worden, bei dem schlichte, vielstöckige, funktionelle Gebäude auf die "grüne Wiese" gebaut wurden: Wohnungen, die licht-, luft- und sonnendurchflutet sein sollten, mit modernen, hygienischen Einrichtungen für jede einzelne Wohnung und Stahlbeton als Baumaterial. Die Häuser sollten die Wohnzimmer nach Süden und Westen ausgerichtet haben, die Schlafzimmer nach Osten.

1980: Endlich fährt auch eine U-Bahn ins Viertel – die U8.
1980: Endlich fährt auch eine U-Bahn ins Viertel – die U8. © dpa

Diese Baukonzeption hatte in den 1960er-Jahren schon einige Mängel gezeigt, war aber zur Zeit der Planung Neuperlachs noch aktuell. Den Planern der Siedlung ist klar, dass diese Bauauflage das Stadtbild zwangsläufig monoton machen würde, dennoch müssen die Auflagen befolgt werden.

Insolvenz der "Neuen Heimat": Ursprüngliche Pläne werden verworfen

In einer ersten Baustufe werden die Baugebiete Nord, Nordost und Ost fertiggestellt. Für die zweite große Baustufe, das Zentrum Neuperlachs mit zahlreichen Geschäften, Arbeitsstätten und kulturellen sowie sozialen Einrichtungen, wird 1967 ein städtebaulicher Wettbewerb ausgelobt und zugunsten des jungen Berliner Architekten Bernt Lauter entschieden.

Lauters Plan sieht einen gewaltigen achtseitigen Ring aus Wohnhäusern vor, der bis zu einer Höhe von 18 Stockwerken aufsteigen und eine Freifläche von etwa 400 bis 500 Metern Durchmesser umfassen sollte. Dann kommt alles anders. Die Neue Heimat geht Pleite und wird zerschlagen. Die ursprünglichen Planungen werden von neuen Investoren nur noch zum Teil berücksichtigt. Die Idee einer Verschränkung unterschiedlicher städtischer Funktionen zugunsten einer klaren Trennung von Wohn-, Einkaufs-, Büro-, Kultur- und Sportbereich wird verworfen. Später werden auch die Sportstätten und die kulturelle Infrastruktur fast vollständig aufgegeben.

Neuperlachs Hauptplaner, Egon Hartmann, hatte vergeblich vor der Degradierung des Stadtteilmittelpunktes zu einem "klimatisierten Allerweltskaufhaus" ohne echtes städtisches Leben gewarnt. Der Architekt Bernt Lauter distanzierte sich noch während der Umarbeitungen seines Entwurfs von dem Projekt.

Der Fußgängerüberweg an der Plettstraße.
Der Fußgängerüberweg an der Plettstraße. © Stadtarchiv

Münchner kritisiert heutige Architektur: "Wirklich enttäuschend"

Der Wohnbereich des Zentrums war bis 1978 größtenteils fertiggestellt, 1981 werden die Perlacher Einkaufspassagen (PEP) eröffnet. Das Wohngebiet Süd war mit der Eröffnung der zentralen Fußgängerzone im zweiten Abschnitt erst im Jahr 1991 weitgehend abgeschlossen. "Ich habe den Bau von Neuperlach-Süd miterlebt, das war anders als das Existierende", erinnert sich der einstige Bewohner Bruno Tamborino.

"Anfang der achtziger Jahre wurden auch in Neuperlach-Nord die ersten Neubemalungen von Häuserblocks ausgeführt. Die ersten respektierten die Architektur noch, dann wurde zum Teil die Architektur ignoriert und in einem gewissen Sinn quer darübergemalt." Die Häuser haben oder hatten durchaus eine Architektur, die man respektierten sollte, meint Tamborino. "Es ist wirklich enttäuschend, wie alles optisch in den letzten Jahren verschlechtert wurde", sagt er.

Die höchsten Gebäude Münchens.
Die höchsten Gebäude Münchens.

Heute lebt Tamborino im süditalienischen Lecce, erinnert sich aber gerne zurück an die Zeit in Neuperlach. Er hat sogar ein kleines Privatarchiv mit Fotos, Postkarten, Zeichnungen, Bauplänen und persönlichen Aufzeichnungen zusammengestellt. "Es ist schwer zu sagen, woher meine Faszination für das Stadtviertel stammt", sagt Tamborino. "Vielleicht faszinierte mich der Kontrast zwischen den fantasievollen Häusern in Süditalien und den strengeren in Neuperlach. Jedes hatte seine Würdigkeit."

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