München: Nackerten-Paradies aus Tradition
München - Die Jugendrevolte von 1968, die sich nicht zuletzt als "sexuelle Befreiung" verstand, hatte insbesondere auch die Beziehung zum Körper verändert, also sehr gelockert. Und dieser Aufbruch zu neuen Ufern der Gesellschaft riss gerade im dynamischen München die Umzäunungen ein, hinter denen sich die "Naturisten" bislang schamhaft im "Lichthemd" getummelt hatten. An den innerstädtischen Uferstreifen der Isar und des Eisbachs, auf den Liegewiesen im Englischen Garten, ja sogar im aufgelassenen Alten Nördlichen Friedhof tauchten sie urplötzlich auf, erst einzeln, dann in Massen.
Paradis für Nackerte - München in den 70ern und 80ern
Ungeniert trieben die "Nackerten", wie sie alsbald in den Zeitungen geradezu bejubelt und gerne abgebildet wurden, eine neue, ungeregelte Art von Freizeit- und Freikörperkultur oder – in anderer Sicht – von Exhibitionismus. So gedieh München in den 70er und frühen 80er Jahren zu einer Art Paradies.
Beileibe nicht nur junge und schöne Menschen spielten Adam und Eva in aller Offenheit. Sie grillten ihre entblößten Körper im Gras, im Kies, auf Sand- und Betonbänken. Sie schwammen, ruhten, radelten, ruderten so, wie Gott sie geschaffen hatte. Sie spielten Ball oder spazierten neben bekleideten Passanten einher. Schnell verschwand die Scham – Toleranz war angesagt.

Der Katholikenrat schimpft über die "nackerte Unkultur"
Vor allem Jugendliche entdeckten einen ganz besonderen Kick: Sie warfen sich an der Prinzregentenstraße, wo jetzt die Surfer bestaunt werden, in die Strömung. Am Tivolipark, bevor der Eisbach über ein Gefälle stürzt, stiegen sie ans Ufer und direkt in die Trambahn ein, um zum Startplatz ihrer Schwimmstrecke zurückzufahren. Ans Bezahlen dachten sie nicht, Nackten kann man ja bekanntlich nicht in die Tasche greifen.
Das gefiel schon damals nicht allen. Als "nackte Unkultur" beschimpfte der Katholikenrat die große Entkleidungswelle im Stil von Sylt; dort auf der Insel war sie allerdings noch auf Besserverdienende und Kulturträger beschränkt, während sich die Münchner klassenlos auszogen.
Von den Gewässern der Isar her schwappte die Nacktwelle bis zum großen Brunnen am Stachus über. Und sogar in den riesigen Biergarten am Chinesischen Turm tröpfelten Einzelne hüllenlos hinein.
"Invasion der Kleiderlosen" stört viele Münchner
Als "nackte Militanz" rügte Freiherr von Crailsheim, Generaldirektor der Staatlichen Seen und Gärten, den offenbar unaufhaltsamen Einbruch der Nackten in sein Revier. "Nächstes Jahr gehen’s in die Oper," zitierte ein Spiegel-Reporter, der sich unbedeckt unter die Nackten gesellt hatte, einen der zahlreichen "Luager" (Voyeure), die teilweise mit Feldstecher oder Videokamera die Szene besichtigten.
Bald trieben sie es noch toller, "noch ausg’schamter," wie immer mehr Münchner grantelten. Eine Umfrage erkannte damals, dass sich 62 Prozent der Männer und 49 Prozent der Frauen durch die Invasion der Kleiderlosen gestört fühlten. Genauere Nachfragen enthüllten indes, dass man und frau weniger um die Moral besorgt waren, sondern eher ästhetische Vorbehalte hatten. Dem Sprecher des Katholikenrats etwa waren "diese pendelnden Penisse" ein peinlicher Anblick.
Immer weiter drangen die Nacken hinaus ins Land. Am Feldmochinger See wurde im Juli 1982 einer der Freikörperkulturrevolutionäre beschossen. Und der Bürgermeister einer Umlandgemeinde stellte Kübel voller Jauche für "de Saubärn" bereit.
1982 werden in München acht "Toleranzzonen" beschlossen
Mangels Personal konnte die Polizei die unbekleideten, weit verstreuten Massen kaum noch unter Kontrolle halten. Spielverderber wollte man aber auch nicht sein. Wer außerhalb der acht "Toleranzzonen", die am 7. Juli 1982 festgelegt wurden, mit blanker Haut von Kopf bis Fuß ertappt wurde, bekam lediglich eine Belehrung. Erst beim zweiten Mal musste man 50 Mark Bußgeld berappen.
Dieses Münchner Paradies wurde eine weltweit bekannte Attraktion. Ganze Busse von Touristen kamen zur großen Nuditäten-Show, sie konnten sich so das teure Striptease-Lokal sparen. Sogar die Kronprinzessin von Thailand soll bei einem Bayern-Besuch um einen Abstecher zur Nudistenwiese gebeten haben, was ihr das Protokoll aber ausreden konnte.
Dann berichtete sogar ein amerikanisches Nachrichtenmagazin über "the Munich Nudists" und stellte vergleichsweise fest, keine andere Stadt in Old Europe würde eine derartige Zurschaustellung nackter Tatsachen tolerieren. Und derselbe norddeutsche Berichterstatter wie 1981 kam vier Sommer später zu der Erkenntnis: "Aus dem katholischen München wurde die Hauptstadt eines schweigenden Volksbegehrens nach ganzheitlicher Besonnung."
"Polizei jagt Nackte", heißt es in einer Schlagzeile von 1986
Die erreichte dann im Jahr 1985 ein Ausmaß, dass die uniformierten Ordnungshüter immerhin 154 Platzverweise aussprechen und 41 Anzeigen aufnehmen mussten. Für 1986 wurden schärfere Kontrollen angekündigt. Schlagzeilen alarmierten: "Polizei jagt Nackte". Ein grüner Stadtrat behauptete sogar, einige der textilfreien Frauen und Männer seien in Handschellen abgeführt worden – was er später freilich dementieren musste.
Die für die freie Freikörperszene freigegebenen Zonen wurden schließlich amtlich festgelegt. Fortan sollten nur noch auf sechs Plätzen "paradiesische Zustände" herrschen. 1.800 Merkblätter wurden im Sommer 1986 an potenziellen, aber nicht legalen Nacktbadeplätzen verteilt.
Der Junglehrerverband hielt ein weiteres Merkblatt zum "pädagogischen Verhalten in FKK-Bereichen" parat: Lehrer sollten sich hinter Gebüsche zurückziehen, um peinliche Begegnungen mit unangezogenen Schülern zu vermeiden.

Bis zu 6.000 Nackerte am Feringasee
Nach gegenwärtigem Stand sind mehrere Bereiche im Stadtgebiet vom generellen Nacktbadeverbot ausgenommen.
Das größte und beliebteste "Paradies" befindet sich aber vor den Toren der Stadt: in Unterföhring: Bis zu 6.000 Nackerte tummeln sich an heißen Tagen auf der Halbinsel des 32 Hektar großen Feringasees. Gaffer nutzen den zwei Kilometer langen Rundweg gern als Aussichtspromenade. Inzwischen gibt es hier sogar eine Sichtschutz-Schleuse mit mehrsprachigen Hinweisen und deutlichen Piktogrammen gegen unerwünschte Blickkontakte.
Der Text stützt sich auf das Buch "Badelust in München & Oberbayern" (edition buntehunde) von Karl Stankiewitz.
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