München: Ein Paradies für Zocker

MÜNCHEN - Die Zahl der Konzessionen hat sich in zehn Jahren verdreifacht und auch in besseren Vierteln daddeln jetzt die Spielautomaten. Anwohner sind frustriert – und machtlos.
Nur eine Pflaume fehlt zum Glück. Leider flimmert auf dem Bildschirm vor Gregor S. (Name geändert) dann doch wieder eine Kirsche. Ein Zucken huscht über sein Gesicht. „Pech“, raunt er. Auf dem Display tanzen die bunten Obstsorten als leuchtene Symbole wild durcheinander. Doch nur drei in einer Reihe bringen Punkte und damit Cash. So hat Gergor S. Geld verloren – wieder einmal.
Eigentlich ist er von Beruf „Techniker“, wie er sagt, doch nach Feierabend flüchtet er sich in die bunte Halbwelt der Zocker-Buden. Auch heute bedient er in der Spielhalle in der Schillerstraße im Bahnhofsviertel vier Automaten gleichzeitig, schiebt hier einen Zwanziger nach, lässt dort einen Zehner durch den Schlitz gleiten. Doch die Scheine verschwinden nur in die eine Richtung: hinein in den Automaten. Heraus kommt kaum was.
Er habe einmal 700 Euro an einem Tag gewonnen, erzählt der junge Mann mit dem dunkeln Haar. Das ist zwar schon eine Weile her – doch die Hoffnung bleibt. Von seinem knappen Gehalt lässt er etwa die Hälfte in der Spielhalle liegen. Er zocke „zur Entspannung und Ablenkung“, erzählt er.
Die abendliche Zerstreuung lässt sich der Zocker monatlich rund 500 Euro kosten – und er ist nicht allein. 2009 haben die Bundesbürger rund 28 Milliarden Euro verspielt, mehr als drei Milliarden davon an den sogenannten Daddel-Automaten.
Laut Kreisverwaltungsreferat gibt es im Münchner Stadtgebiet derzeit 1979 Geräte dieser Art. Während die Zahl der Konzessionen für die Automaten rund um den Bahnhof stabil bei 40 liegt, sind die Zulassungen im übrigen Stadtgebiet sprunghaft gestiegen. 190 Konzessionen gibt es nun in ganz München. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren waren es gerade mal 64. Und in dem noch jungen Jahr liegen beim Kreisverwaltungsreferat (KVR) bereits 15 neue Anträge zur Genehmigung auf dem Tisch.
Jahrelang fristeten die flimmernden Automaten mit den Computer- Melodien ihr Dasein in zwielichtigen Eckkneipen und kamen selten über die Schmuddelviertel der Innenstadt hinaus. Doch die Zeiten haben sich geändert – längst sitzen die Zocker auch vor den Haustüren des Bürgertums in den besseren Vierteln.
Wie etwa in Neuhausen. In dem netten Stadtteil hatten sich Verena H. und ihr Freund im April 2008 eine Eigentumswohnung im Karl-Albrecht-Hof gekauft. Als sie einzogen, servierte im Erdgeschoss ein Italiener noch Pasta – nun heißt es wohl schon bald: Daddeln statt Dolce Vita. Ein Spielhallenbetreiber will in dem Haus einziehen – die Bewohner sind empört.
„Es ist nun mal so, dass Spielhallen eher ein zwielichtiges Publikum anziehen“, seufzt die 28-jährige Journalistin Verena H. Und das könnte dann 24 Stunden an sieben Tagen die Woche in ihrem Zuhause verkehren. Der Bezirksausschuss Neuhausen-Nymphenburg stärkt den Eigentümern den Rücken. Einen Anwalt haben sie bereits eingeschalten, doch juristisch lässt sich gegen die Expansions-Wünsche der Automaten-Aufsteller kaum vorgehen. Im Gegenteil: Die Rechtssprechung begünstigt sogar die Expansion der Zocker-Höllen.
Spielhallen sind vor dem Gesetz ein ganz normales Gewerbe und dürfen sich in Stadtvierteln mit einer überwiegend gewerblichen Nutzung ansiedeln – genauso wie etwa ein Blumenladen oder ein Automechaniker.
Selbst wenn man wollte, so heißt es beim Kreisverwaltungsreferat (KVR), könne man die Anträge der Spielhallen-Betreiber kaum verhindern. Und bei den bestehenden gesetzlichen Regelungen wird seitens der Aufsteller gemogelt. Einerseits bei den Automaten, die so gedrosselt sind, dass Zocker maximal 80 Euro pro Stunde verlieren können. Andererseits wird mit sogenannten Mehrfach-Konzessionen getrickst. Weil eine Konzession auf 12 Geräte beschränkt ist, werden einfach mehrere Konzessionen beantragt und zwischen die Räume Trennwände gezogen. Dreifach- bis Vierfach-Konzessionen für einen Standort sind die Regel.
Es sind kleine Tricks mit großer Wirkung. Denn die Branche setzt Milliarden um. Ein großer Zweig des Geldstroms führt nach Espelkamp in Ostwestfalen. Hier sitzt die Gauselmann-Gruppe, die bundesweit 200 Merkur-Spielotheken betreibt. Zwar gibt es an der Isar nur drei Filialen – dennoch verdient das Unternehmen bei jeder neueröffneten Münchner Zockerhölle mit: Die Gauselmann-Gruppe ist als Hersteller der Daddel-Automaten Marktführer.
Mit einem Geschäftsvolumen von 1,2 Milliarden geht es der Firma und ihren 6000 Mitarbeitern bestens. Sprecher Mario Hoffmann räumt ein: „Die Tendenz geht seit einigen Jahren nach oben.“
Mit großer Sorge wird diese Entwicklung in München beobachtet. In Bayern gibt es keine Vergnügungssteuer, für die Automaten sind keine Abgaben fällig – das befeuert die Expansions-Wut.
Das nächste große Zocker-Paradies soll daher an der Dachauerstraße 15 entstehen. Ein Entertainement-Center mit drei Spielhallen à 144 Quadratmetern. Der Antrag liegt bei der Lokalbaukommission. Oskar Holl vom Bezirksausschuss Maxvorstadt befürchtet „einen Verlust an Lebensqualität“ – und will die Spielhöllen neben dem Luisengymnasium und drei Berufsschulen verhindern. Vor allem sieht Holl „den bodenständige Einzelhandel“ in Gefahr. Dank höherer Gewinne könnten Spielhallen höhere Mieten zahlen. Der Verlierer sei der Einzelhändler, meint Holl.
Auch Gergor S. in der Spielothek in der Schillerstraße ist heute wieder Verlierer. Nach drei Stunden gibt er auf, verlässt die flimmernde Halbwelt der Automaten. Er wird wiederkommen.
Reinhard Keck