München, ein Abenteuerspielplatz: Christian Udes Kindheit in den 50ern

München - Ich bin Jahrgang 1947. Da wurde ich 1950 erstmals von den Eltern in den Nymphenburger Park mitgenommen und mit meiner größeren Schwester Karin auf einen der beiden Löwen vor der Badenburg gesetzt. Man gönnt mir ja sonst nichts.
Eigentlich wollte ich nur sofort wieder runter, aber der Papa wollte die Szene unbedingt mit seiner kleinen Kamera festhalten. Mein Gott, war mir das peinlich! Diese langen Haare! Wie ein Mädchen!

"Gute-Nacht-Engerl" Christian Ude
Später erzählte mir die Schriftstellerin Ellis Kaut, die Mutter des Pumuckl, ich hätte als "Gute-Nacht-Engerl" bei den Künstlerfesten in der Wohnung meiner Eltern mit schulterlangem Haar und weißem Nachthemd allen Gästen den Gute-Nacht-Kuss gegeben, ehe die Ausschweifungen der Erwachsenen mit verdünntem Eierlikör beginnen konnten. Man gönnte ihnen ja sonst nichts.
Angst vor Fußbällen und Löwen
Aber sie feierten, dass sie überlebt hatten - das war Grund genug. Später gab ich dem ersten Foto aus den 50er Jahren den Titel "Einmal Löwe, immer Löwe".
Das war dreist erfunden, denn damals hatte ich vor Fußbällen noch mehr Angst als vor Löwen, von denen man allein nicht mehr herunterkam, aber es klang toll - nach früher Berufung und ewiger Treue! Sind vielleicht alle unsere Erinnerungen so zurechtgebogen?

Die nächsten nicht. Der erste Schultag war wirklich in der Grundschule am Bayernplatz und in der kurzen Lederhose, weil es gar kein anderes Kleidungsstück gab. Und mein Teddy Bruno war wirklich mein bester Freund, anfangs sogar einen Kopf größer als ich.
Und mein winziges Kämmerchen bedeutete für mich wirklich die gesamte Welt, die auf dem Vorhang auch zu sehen war.

Georgia van der Rohe wohnte bei den Udes
Erst jetzt fand ich wegen der Pandemie die Zeit, das Buch "La donna è mobile" von der Schauspielerin, Tänzerin, Filmschauspielerin und Femme fatale Georgia van der Rohe zu lesen, der Tochter des "entarteten" Künstlers und Architekten Mies van der Rohe.
Sie schwärmt dort: "Ich fand einen Unterschlupf bei dem Schriftsteller Karl Ude und seiner Frau, einer Französisch-Schweizerin. Ich bewohnte eine ungeheizte Kammer, wo ich im Bett mit Pelzjacke und Handschuhen an meinen Rollen arbeitete. Die Udes waren reizende Menschen. Sie hatten eine kleine Tochter, später kam noch ein Sohn, Christian, hinzu, der heutige Oberbürgermeister von München."
Tja, und für den musste das Kämmerchen geräumt werden. Wie peinlich ist das denn schon wieder!
In der Stadt gab es nur graue Altbauten - und Ruinengrundstücke. Waren wir Kinder gefühlskalt, dass wir den zerbombten Häusern keinen Schrecken abgewinnen konnten?
Ruinengrundstücke als Abenteuer-Spielplätze
Es waren Abenteuer-Spielplätze, in den Kellern konnte man noch Gasmasken und Helme finden, Helme der US-Army brachten beim Tauschen am meisten ein.
Die diensthabenden Amis wussten wir zu unterschieden: Die weißen hatten extrem kurz geschorene Haare und einen schnarrenden Befehlston, die schwarzen konnten mit einem Lächeln die Sonne aufgehen lassen und verschenkten Chewing gums im Fünferpack, schon für die kleinste Gefälligkeit.
Bei uns in der Schwabinger Bauerstraße warteten immer Dutzende von Jeep-Besatzungen vor der Kolb-Garage auf ihren Termin.
Wenn man auf dem Bürgersteig Kunststücke auf dem Tretroller vollbrachte (mit dem Bauch lenken, ein Bein beim Fahren auf dem Lenker ablegen), gab es Kaugummi-Packungen. Da lohnte sich die Völkerverständigung wenigstens.
Wir Kinder spielten in Schwabing Völkerball - auf der Straße
Ende der 50er Jahre wurden die Jeeps seltener - und wir konnten auf der Straße Völkerball spielen. Auf der Straße! Wir wussten ja, welche drei Papis schon ein Auto hatten.
Und wenn die schon zu Hause waren, musste man kein Fahrzeug mehr fürchten, jedenfalls nicht zwischen Barer- und Tengstraße.
Da gehörte die Straße uns - und wichtig war nur noch, den gegnerischen Ballschützen geschickt auszuweichen und selber einige abzuschießen. Überleben, lehrte uns das Völkerballspiel, ist das wichtigste.
Ich wollte ein Indianer sein, der lautlos durchs Gras schleicht
Aber wir spielten auf der Straße auch "Cowboy und Indianer". Vor allem - aber nicht nur - im Fasching. Ich wollte immer eine Rothaut sein.
Kein Cowboy, kein Depp, der mit Revolvern rumballerte, sondern ein Indianer, der lautlos durchs Gras schleichen konnte, der mit Pfeil und Bogen jeden traf, der mit seinem Federschmuck etwas hermachte und auf dessen Wort man sich verlassen konnte, wenn er dabei seine Friedenspfeife rauchte.

Indianer zu spielen war der höchste Ausdruck der Verehrung: Wir wollten sein wie diese Naturvölker, wollten teilhaben an ihrem Verhältnis zur Natur, wollten reiten können wie sie, zusammenhalten wie sie, den Schießgewehren und Eisenbahngesellschaften widerstehen wie sie.
Über die Cancel Culture
Deshalb gehört es für mich zu den unbegreiflichsten Neuerungen des Jahres 2021, dass sich die grüne Bürgermeister-Kandidatin in Berlin in aller Form dafür entschuldigt hat, dass sie mit sechs (!) Jahren gerne Indianerhäuptling geworden wäre - weil das nach den neuesten Lehren der "Cancel Culture" angeblich rassistisch war.
Nein, ich bin sogar stolz darauf, dass ich es wenigstens gegen Ende meiner Amtszeit als OB zum "Häuptling Rote Feder" beim Münchner Cowboyclub gebracht habe, den der Vater des AZ-Kolumnisten und bedeutenden Roman-Autors Sigi Sommer als "Häuptling Großer Abendwind" gegründet hat.
Welcher Respekt vor fremden Völkern und Lebensweisen, welche Poesie in der Namensgebung.