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München: Attacken gegen Straßenzeitungsverkäufer und SPD-Politiker – "Allgemeine Verrohung"

Er ist SPD-Politiker, Straßenzeitungsverkäufer in München, lebte unter freiem Himmel, wird oft angepöbelt und sorgt sich um Europa. Was treibt Dirk Schuchardt um?
von  Martina Scheffler
Hier steht "Biss"-Verkäufer Dirk Schuchardt regelmäßig: an der Rolltreppe, die am Stachus von der Oberfläche zu den Stachus-Passagen führt.
Hier steht "Biss"-Verkäufer Dirk Schuchardt regelmäßig: an der Rolltreppe, die am Stachus von der Oberfläche zu den Stachus-Passagen führt. © Daniel von Loeper

München - Wenn man Dirk Schuchardt an seinem Arbeitsplatz im Sperrengeschoss am Stachus besucht, würde man nicht unbedingt denken, dass hier ein Fachmann für Demokratie steht, der mit Kevin Kühnert korrespondiert, dem Generalsekretär der SPD, oder mit Saskia Esken, der Bundesvorsitzenden. Oder vielleicht doch?

Möglicherweise hat Schuchardt, der Straßenzeitungsverkäufer vom Karlsplatz, doch mehr über die Demokratie zu sagen. Schließlich ist er Beisitzer im Vorstand der SPD in Planegg. Von da kennt er die Seite der Politik. Und er ist ein Mann, der unzählige Male von anderen Menschen angepöbelt und angegriffen worden ist, mit Worten, Fäusten und Messern. Als "Biss"-Verkäufer kennt er die Seite der Straße.

Dirk Schuchardt über Protestwähler der AfD: "Das ist kein Protest, das ist Dummheit"

Wenn man ihm mit dem Grundgesetz kommt, das diese Woche 75 wird, muss man ihn nicht lange nach der Bedeutung fragen. "Die demokratischen Werte sind darin verewigt", sagt Schuchardt. Sieht er sie, wie so viele, in Gefahr? "Leider ja – die AfD zum Beispiel, von der viele sagen, sie wählen sie aus Protest. Ich muss sagen: Das ist kein Protest, das ist Dummheit." Was er besser in so einem Fall fände: den Wahlzettel ungültig machen.

Schuchardt befürchtet, dass es für seine Genossen bei der Europawahl nicht so gut laufen könnte. Vielleicht könnten die Wähler nicht genau zwischen der Politik im Bund und der in Europa trennen. Den Grund für den schlechten Ruf, den die Ampel bei vielen hat, sieht der Planegger darin, dass die Parteien gegenseitig versuchten, sich das Wasser abzugraben und für die eigene Klientel das Beste herauszuholen. Viele sähen über diesen Streit gar nicht, "was die SPD alles Gutes zuwegegebracht hat", wie die Erhöhung des Kindergeldes, der Grundsicherung und der Renten. "Das meiste geht alles von der SPD aus."

Bekommt er Wut und Hass, wie er sich zuletzt in mehreren Angriffen auf Politiker gezeigt hat, auch zu spüren? In seinem Umkreis hat Schuchardt nichts dergleichen gehört, erzählt er. Dem zusammengeschlagenen Genossen Matthias Ecke aus Dresden habe er aber seine Solidarität bekundet.

Ihm schrieb Dirk Schuchardt eine Solidaritätsbekundung: Matthias Ecke (SPD), Europaabgeordneter, war am 3. Mai in Dresden niedergeschlagen worden, als er Plakate aufhängen wollte. Er erlitt Knochenbrüche im Gesicht und musste operiert werden.
Ihm schrieb Dirk Schuchardt eine Solidaritätsbekundung: Matthias Ecke (SPD), Europaabgeordneter, war am 3. Mai in Dresden niedergeschlagen worden, als er Plakate aufhängen wollte. Er erlitt Knochenbrüche im Gesicht und musste operiert werden. © Jan Woitas/dpa

Am Dienstag vergangener Woche hat er eine Antwort bekommen: ein Dank und der Aufruf, sich nicht beirren zu lassen und weiterzumachen. Das sieht auch Schuchardt so: Sich zurückzuziehen sei der falsche Weg. "Dann hätten die Rechten gewonnen."

Dirk Schuchardt wollte nur für ein paar Tage das  "Biss"-Magazin in München verkaufen

Opfer von Angriffen werden auch immer wieder Menschen, denen es ohnehin nicht gut geht und die am Rande der Gesellschaft stehen – Obdachlose etwa. Auch Schuchardt kennt das Leben auf der Straße, obwohl es bei ihm selbst gewählt war. Nach zwei Scheidungen hatte er "die Nase voll", wie er der AZ erzählt.

Er verließ seinen damaligen Wohnort Hamburg, machte sich mit Rucksack und Zelt auf die Wanderschaft, war in Westeuropa unterwegs und wollte 2006 über München nach Südtirol weiterfahren, als das Schicksal eingriff. In Hamburg hatte er bereits die Straßenzeitung "Hinz & Kunzt" verkauft, jetzt wollte er für ein paar Tage das "Biss"-Magazin verkaufen.

"Biss"-Verkäufer und SPD-Mitglied Dirk Schuchardt im Gespräch mit AZ-Politik-Vize Martina Scheffler.
"Biss"-Verkäufer und SPD-Mitglied Dirk Schuchardt im Gespräch mit AZ-Politik-Vize Martina Scheffler. © Daniel von Loeper

Doch es lief so gut, dass er blieb, und außerdem gab es da diese Frau, die ihm eine Zeitung abkaufte, obwohl sie bereits eine hatte. Ein halbes Jahr später waren sie verheiratet, ein Jahr später wurde Schuchardt Vater, inzwischen hat das Paar drei Kinder. Der "Biss" blieb er treu: Aus Krankheitsgründen würde er keinen anderen Job als diesen finden, glaubt er. Ständig Arzttermine – welcher Arbeitgeber würde das schon mitmachen?

Anfeindungen auf offener Straße: "Das ist die allgemeine Verrohung der Bürger"

Das private Glück hat Schuchardt gefunden, doch immer noch muss er Anfeindungen als "Biss"-Verkäufer ertragen. "Das ist die allgemeine Verrohung der Bürger", sagt er. "Das liegt auch daran, dass den Kids heute keine Grenzen mehr aufgezeigt werden dürfen." Gerade erst sei er von einer "ganzen Rotte" Jugendlicher auf Klassenfahrt belästigt worden, die aus zahlreichen Läden in der Stachus-Passage rausgeflogen seien. Eine Ausnahme? Leider nicht.

Ja, sagt der Planegger, er werde persönlich angefeindet und persönlich angegriffen, weniger als früher zwar, und dennoch: Vor wenigen Monaten erst saß er auf seinem Stuhl vor der Sparkasse, als Jugendliche auf ihn zukamen. Einer trat ihm kräftig gegen den linken Fuß. "Zum Glück hat er nicht mein Bein getroffen. Das war zu dem Zeitpunkt noch offen."

Der Angreifer ging, als sei nichts gewesen. Schuchardt rief ihm hinterher: "Was soll das?" Da drehte sich der Jugendliche um, "hat ein Messer in seiner Hand und sticht zu". Schuchardt hat großes Glück: Er konnte ausweichen. Die anderen Jugendlichen, so schildert es Schuchardt, hielten den Messerstecher zurück, während dieser brüllte: "Ich bring das Schwein um! Ich bring den Penner um!"

Attacke auf Dirk Schuchardt: Da zeigte sich Zivilcourage in Gestalt eines Paares mit kleiner Tochter

Auch mit Worten wird der "Biss"-Verkäufer angegriffen. Eine Gruppe Jungen, elf, zwölf Jahre alt, schätzt er, attackierte seinen Stand: "Was ist denn das für eine Scheiße?", habe einer gefragt. Schuchardts Reaktion – "Lass mich einfach in Ruhe" – bewirkte nichts. Der Junge wollte wissen, was Schuchardt verkauft. Auf die Entgegnung, der Junge könne doch wohl lesen, kam die Frage zurück: "Bist du Rassist?"

"Ganz gewiss nicht", habe er geantwortet, sagt der SPD-Mann. Die Jungen seien rabiat geworden, und da zeigte sich Zivilcourage in Gestalt eines Paares mit kleiner Tochter: Der Vater habe gerufen, die Jungen sollten den Mann in Ruhe lassen, die Mutter tat kund, die Polizei rufen zu wollen.

Wie man die Demokratie nach Ansicht des "Mannes von der Straße", wie sich Schuchardt selbst bezeichnet, stärken könnte? Den Inhalt des Grundgesetzes besser umsetzen, findet er. Wer es mit dem Grundgesetz nicht so genau nehme, nutze aus, dass Verstöße nicht so konsequent verfolgt würden. "Vorhandene Gesetze mehr anwenden."

Kein Taurus für die Ukraine: Schuchardt-Kritik an Parteigenosse und Bundeskanzler Scholz

Seine größte Sorge für die Zukunft aber ist Russland. "Putin ist so verrückt, wie wir auch schon mal einen hatten." Würde der Kremlchef die Ukraine erobern, würde er weiter gegen Westen marschieren, ist Schuchardt sicher. Daher hat er zum Schluss noch eine Kritik an seinem eigenen Kanzler: Das westliche Staatenbündnis müsse der Ukraine helfen "mit allem, was wir haben".

Bleibt bei seinem Nein zur Taurus-Lieferung an die Ukraine, was Dirk Schuchardt kritisiert: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Bleibt bei seinem Nein zur Taurus-Lieferung an die Ukraine, was Dirk Schuchardt kritisiert: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). © Michael Kappeler/dpa

Denn Deutschland sei nicht abwehrbereit, die Bundeswehr "kaputtgespart", und: "Ich verstehe den Scholz nicht, warum er den Taurus nicht liefert." Um "die westliche Welt vor einem Tyrannen zu schützen", müsse der Taurus eingesetzt werden.

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