München: Ärztin warnt vor steigenden Corona-Zahlen
München - Tagsüber kommt Katharina Jäger oft gar nicht dazu, mal die Maske abzusetzen und richtig zu atmen. Die Patienten warten im Gang und im Treppenhaus. Die Internistin arbeitet mit zwei Kolleginnen in einer Hausarztpraxis in Moosach. Mittlerweile kümmert sich die 44-Jährige ausschließlich um Corona-Patienten, Corona-Verdachtsfälle und Patienten mit Infekten. Kein Wunder: München hustet und schnieft, viele haben Fieber – und die Corona-Zahlen steigen weiter.
Am Montag hat die Stadt erstmals die Sieben-Tage-Inzidenz von 200 überschritten. Ein AZ-Gespräch darüber, was es bedeutet, in dieser Zeit Hausärztin zu sein.
AZ: Frau Dr. Jäger, wie schaffen Sie es, dass sich in der Praxis niemand ansteckt bei Patienten, die Corona haben?
KATHARINA JÄGER: Wir haben ein völlig neues Konzept für unsere Praxis entwickelt. Alle unsere Patienten wissen, dass sie sich mit Erkältungssymptomen nicht einfach ins Wartezimmer setzen können. Wir haben zwei Eingänge und zwei Bereiche, die komplett voneinander getrennt sind. Alle Patienten mit einem Infekt, die also Fieber, Glieder- und Kopfschmerzen, Husten und Schnupfen haben, kommen ausschließlich zu mir. Meine Kolleginnen kümmern sich um die anderen Patienten.
"Wir haben mittlerweile täglich positive Fälle"
Haben Sie viele Patienten?
Seit etwa drei Wochen werden wir überrannt von Patienten mit Erkältungssymptomen. Viele sind einfach nur erkältet und sagen, dass ihr Arbeitgeber nicht möchte, dass sie so in die Arbeit kommen. Fast alle wollen einen Abstrich. Wir sind da recht großzügig, da wir festgestellt haben, dass wir es gar nicht immer an den Symptomen festmachen können, ob jemand Corona hat oder nicht. Die Zahlen steigen und das schlägt sich auch bei uns nieder. Wir haben mittlerweile täglich positive Fälle dabei. Wir haben vormittags und nachmittags Sprechstunde und ich bin eigentlich nur noch damit beschäftigt, Corona-Patienten zu sehen, Abstriche zu machen, das Zimmer zu putzen und mich umzuziehen.

Wie läuft die Untersuchung von Patienten mit Corona-Verdacht ab?
Ich trage einen Wegwerfkittel und eine FFP2-Maske. Während des Patientengesprächs sitzen wir zwei Meter voneinander entfernt. Für die Untersuchung trage ich außerdem noch eine Schutzbrille und Handschuhe. Wenn wir uns sehr nahe kommen, atmen wir in unterschiedliche Richtungen. Das ist ein bisschen schwierig.
"Beim Gesundheitsamt geht keiner dran"
Machen Sie den Test auch im Behandlungszimmer?
Wenn der Patient einen Abstrich braucht und eine Krankmeldung, gebe ich über den Computer meiner Arzthelferin Bescheid, die alles herrichtet. Sie beschriftet alles und steckt es in eine Plastiktüte. Dann kommt sie über den Balkon an meine Balkontür, klopft und legt alles bereit. Anschließend geht der Patient auf den Balkon. Ich setze zusätzlich ein Visier auf und nehme einen Mundspatel, damit ich einen tiefen Rachenabstrich machen kann. Ich versuche diese Zeit, wenn ich ihm in den Mund schaue, so kurz wie möglich zu halten. Danach wird alles desinfiziert und weggeschmissen.
Bei mir hat ein Arzt den Corona-Test im Treppenhaus gemacht. Wird das öfter so gehandhabt?
Ich kenne viele Kollegen, die das machen, aber ob die Menschen, die dort wohnen, das so toll finden? Klar wird niemand im Haus angesteckt, weil dort einer abgestrichen wird. Aber ich finde das nicht optimal. Andererseits - wo will man seine Patienten hinschicken, wenn es auf der Theresienwiese bis zu zwei Wochen dauert, bis ein Termin frei ist? Da brauche ich dann auch niemanden mehr abzustreichen. Ich gehe davon aus, dass es in dieser Woche noch mal einen massiven Anstieg geben wird. Dann werden sich die Beschränkungen auch in den Zahlen niederschlagen und wir werden ein Plateau erreichen. Danach werden die Zahlen wieder abfallen, denke ich. Und es wird wieder ein bisschen Normalität einkehren bis zu den Weihnachtsferien.
Von wem erfährt der Patient, ob er positiv oder negativ ist?
Ich rufe jeden an. Wir legen Listen an, damit wir niemanden vergessen. Das Gesundheitsamt kommt ja leider nicht mehr damit nach, die Kontaktpersonen der positiv Getesteten anzurufen. Da ist das Telefon besetzt oder es geht gar niemand hin, selbst das Fax ist überlastet. Wir können unsere Corona-Patienten gar nicht mehr melden - es dauert Stunden, bis das Fax durchgeht. Das Labor schafft es auch nicht, alle zu benachrichtigen. Dazu kommt: Es ist wahnsinnig viel Aufklärung notwendig. Ich sehe es momentan als eine der Hauptaufgaben der Hausärzte an, die Betroffenen zu informieren.
"Man kann sich nicht einfach ‚frei testen'"
Was sind die häufigsten Fragen, die Betroffene haben?
Sie wollen wissen, was die Quarantäne bedeutet, wie lange sie dauert. Man muss erklären, was eine Kontaktperson ist. Ein Mann saß zum Beispiel acht Stunden neben seinem Kollegen, der an Corona erkrankt ist. Zwischen ihnen war ein Abstand von 1,5 Metern, beide haben vor dem PC die Maske abgenommen. Damit ist der Kollege eine Kontaktperson 1 und die gehört 14 Tage in Quarantäne, egal, ob der Abstrich positiv oder negativ ist. Das muss man erst mal allen erklären. Viele verstehen das nicht. Sie sagen: Aber ich bin doch gesund. Ich muss das immer und immer wiederholen. Häufig muss ich auch die Arbeitgeber anrufen und erklären, warum jetzt der Mitarbeiter 14 Tage zuhause bleiben muss und nicht ein negatives Testergebnis bringen und dann weiter arbeiten kann. Es ist aber eben so: Man kann sich nicht einfach ‚frei testen' und dann wieder arbeiten gehen. So ist es, so sind die Regeln. Und wenn einer kein Homeoffice machen kann, weil das in seinem Beruf nicht geht, fällt er zwei Wochen aus. Wenn am Ende der Quarantänezeit alle negativ sind, können sie wieder arbeiten. Aber wenn dann wieder einer positiv ist, fängt alles von vorne an.
Wissen die meisten positiv Getesteten, wo sie sich angesteckt haben?
In den vergangenen zwei bis drei Wochen war es so, dass sich die meisten innerhalb der Familie angesteckt haben. Die zweite große Gruppe hat sich in der Arbeit angesteckt.
Wie geht es weiter, wenn jemand erkrankt ist?
Ich betreue sie am Telefon weiter. Da muss man dranbleiben. Am Tag zehn kippt es oft. Wenn jemand sehr schlecht beinander ist, machen wir auch Hausbesuche - mit Anzug, Mundschutz und Handschuhen. Das ist ein wahnsinniger organisatorischer Aufwand. Wenn ich's nicht machen kann, weil ich die Praxis nicht verlassen kann, schicke ich den ärztlichen Notdienst. Das machen wir von der Praxis aus, das macht mehr Druck. Wenn es dem Patienten ganz schlecht geht, scheue ich mich auch nicht, den Notarzt anzurufen.
"In den Kliniken wird die Hygiene gut eingehalten"
Was raten Sie Corona-Patienten, die zwar krank sind, aber nicht so schwer, dass sie ins Krankenhaus müssen?
Ich rate ihnen, sich auszuruhen: viel Zeit auf der Couch zu verbringen und möglichst zwei Mal am Tag frische Luft zu schnappen. Wer die Möglichkeit hat, sollte im Garten spazieren gehen - oder er setzt sich ans offene Fenster. Außerdem: Viel Tee trinken mit Ingwer, Zitrone und Honig. Viele jüngere Patienten haben auch mit Kurkuma gute Erfahrungen gemacht. Außerdem rate ich bei starken Kopf- und Gliederschmerzen eines der üblichen Schmerzmittel zu nehmen: Paracetamol, Ibuprofen, Aspirin - da gibt es keinerlei Gegenanzeigen für Coronakranke. Zwei Mal am Tag mit Kochsalz zu inhalieren, ist auch gut. Für Patienten, die nachts wegen starker Hustenattacken nicht schlafen können, empfehlen wir Hustenstiller und Nasentropfen, um die Nase freizuhalten. Schlafen ist das Beste, um das Immunsystem wieder zu stärken und zu Kräften zu kommen.

Was ist mit den Patienten, die kein Corona haben? Kommen die noch in Ihre Praxis?
Seit voriger Woche merken wir, dass chronisch Kranke und Patienten, die vorher zum Check-up kamen, ihre Termine absagen. Daran merke ich: Was wir an Vertrauen aufgebaut hatten, ist wieder weg. Die Patienten kommen nicht mehr. Viele haben vor sechs Monaten ihre Operationen abgesagt, weil sie Angst hatten, sich in der Klinik anzustecken. Sie bekamen neue Termine und nun überlegen sie, sie wieder abzusagen.
Aber das kann doch sehr problematisch werden?
Ja. Es macht mir große Sorgen, wenn Operationen immer wieder verschoben werden. Einige sind schon durchs Raster gefallen, das hätte nicht sein müssen. Es macht einen großen Unterschied, ob ich einem Herzinfarkt mit einem Stent vorbeuge oder ob es zum Infarkt kommt. Ein Tumor, der gut zu operieren gewesen wäre, kann nach sechs Monaten zu einem metastasierten Karzinom mit schlechter Prognose werden. Für den einen oder anderen kann es dann zu spät sein. Wir müssen viel Aufklärungsarbeit machen und darauf vertrauen, dass die Hygiene nicht nur bei uns in der Praxis, sondern auch im Krankenhaus eingehalten wird und das Risiko minimal ist, sich dort anzustecken. Die Kliniken sind gut aufgestellt, sie haben gute Konzepte und Strukturen. Sie haben über den Sommer viel gelernt. In den Kliniken wird die Hygiene gut eingehalten.
"Nach der Arbeit bin ich fertig."
Finden Sie, dass den niedergelassenen Ärzten zu viel zugemutet wird?
Natürlich hätten wir alle gern mehr qualifizierte Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern, die die Arbeit übernehmen, die wir jetzt machen müssen. Gerade das mit der Aufklärung: Wie mache ich es mit dem Arbeitgeber, wo kriege ich mein Geld her und so weiter. Wir haben nie einen offiziellen Auftrag bekommen, weil es immer hieß, unsere Gesundheitsämter schaffen das alles. Aber es gibt viele Patienten, die seit 14 Tagen, drei Wochen mit Corona zuhause sind und keinen Anruf vom Gesundheitsamt bekommen oder jemanden erreicht haben. Ich fühle mich da auch manchmal etwas alleingelassen. Aber wir müssen uns da durchkämpfen. Ich sehe es als Ärztin als meine Aufgabe an, die Patienten in der Pandemie mitzuversorgen.
Wie geht es Ihnen persönlich mit dieser Situation?
Es ist eine körperliche Belastung, den ganzen Tag eine FFP2-Maske zu tragen, ich habe sehr viel häufiger Kopfschmerzen. Eigentlich sollte man nach zwei Stunden eine Pause machen, aber das ist gar nicht machbar. Abends bin ich fertig. Ich gehe nach Hause, dusche und dann bin ich eigentlich reif fürs Bett.
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