Mit Sozialarbeitern auf der Straße: Welche Probleme haben Obdachlose?

München - Ellen Mayrhofer macht sich Sorgen. Denn sie sieht ein paar Koffer, ein paar Busse, ein paar Menschen. Doch den, den sie an diesem Abend am Münchner Busbahnhof sucht, sieht sie nicht: Einen älteren Herren, der meistens hier zwischen all den Wartenden sitzt, doch für den kein Bus kommt, der ihn nach Hause bringen könnte. Der obdachlose Mann habe über Fieber und Husten geklagt, sagt Mayrhofer. Er wollte ins Krankenhaus, doch ob er da ankam, weiß sie nicht.
Seit einem Jahr versorgt der Wärmebus Obdachlose
Mehr will sie nicht über ihn verraten. Denn Vertrauen sei das Wichtigste in ihrem Job. Ellen Mayrhofer (44) arbeitet als Streetworkerin für das Evangelische Hilfswerk in München. Rund um den Hauptbahnhof zeigt sie obdachlosen Menschen tagsüber, wo sie Hilfe bekommen können. Und abends bietet sie ihnen an, mit ihr in die Bayernkaserne, die Obdachlosen-Notunterkunft der Stadt, zu fahren. Den Wärmebus, wie sich das Angebot nennt, gibt es seit etwa einem Jahr. Die Kosten dafür trägt die Stadt. Für die Dritte Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) ist das ein Anlass, an diesem Abend mit in den Bus zu steigen und mitzufahren. Dietl ist selbst Sozialarbeiterin und von der Wichtigkeit des Angebots überzeugt.
Die Pandemie verschärft die Situation
Corona macht die Arbeit der Streetworkerin schwieriger. Denn seit sich das Virus verbreitet, das die Menschen zur Isolation zwingt, fällt es ihr schwerer, mit den obdachlosen Menschen Kontakt zu halten, sagt Mayrhofer. Denn nachts schlafen viele nicht mehr dort, wo sie sonst immer saßen. Und tagsüber dürfen nicht mehr so viele wie sonst in die Teestube "komm" an der Zenettistraße hinein. Auch sie wird vom Evangelischen Hilfswerk betrieben. Normalerweise können sich 70 Menschen bei einem Kaffee aufwärmen. Jetzt ist noch Platz für zwölf Personen.

Begrenzte Kapazitäten für frierende Obdachlose
An manchen Tagen sei die Schlange vor der Türe 200 Meter lang, sagt Christof Lochner. Er leitet die Teestube stellvertretend, nennt sich selbst "Schreibtisch-Täter", doch an diesem Abend fährt auch er mit. Zur Zeit muss er die Menschen nach zwei bis drei Stunden wieder aus der Teestube hinaus in die Kälte schicken, damit sie Platz machen für die nächsten. Leicht fällt Lochner das bestimmt nicht. Denn wenn man ihn fragt, warum er Sozialarbeiter wurde, erzählt er von seiner Kindheit in einem Dorf in Franken und von seinen Eltern, die oft obdachlose Menschen zum Mittagessen einluden.
Bürgermeisterin Dietl will sich vor Ort ein Bild machen
Der Busbahnhof an der Hackerbrücke war der erste Stopp an diesem Abend. Als Nächstes halten Mayrhofer und Lochner an einer Unterführung an. Weil sie niemanden verschrecken wollen, gehen Christof Lochner und Ellen Mayrhofer allein hinunter. Schon an der Treppe riecht es nach Urin. Die Füße der Bürgermeisterin frieren. Sie schaue sich die Probleme Münchens trotzdem lieber vor Ort an, als darüber am Schreibtisch nachlesen, sagt Verena Dietl. Nach ihrem Studium habe sie zuerst auch in der Obdachlosenhilfe arbeiten wollen.

Fast 9.000 Münchner ohne Zuhause
Das ist gut 15 Jahre her. Seitdem hat sich die Zahl der Wohnungslosen in München etwa vervierfacht: 8.682 Menschen haben laut Sozialreferat kein eigenes Zuhause. Sie wohnen in Unterkünften, Heimen und Pensionen. Zudem leben laut Evangelischem Hilfswerk mindestens 1.000 Menschen in München auf der Straße. Für sie eröffnete die Stadt 2012 den Kälteschutz auf dem Areal der Bayernkaserne. Hier dürfen auch Menschen übernachten, die sonst keinen Anspruch auf soziale Unterstützung haben - zum Beispiel, weil sie aus Osteuropa stammen. Die Zahl derer, die ihre Heimat in Bulgarien oder Rumänien verließen, um in München ein besseres Leben zu suchen und sich letztlich auf der Straße wiederfanden, habe in den vergangenen Jahren enorm zugenommen, sagen die Sozialpädagogen.
Bisher gibt es keine Notunterkünfte für Paare
Als sie wieder raus aus der Unterführung sind, erzählen sie von einem Kroaten, den sie dort unten trafen, der alles verlor: Wohnung, Job, Papiere, Geld. Zur Bayernkaserne fährt er trotzdem nicht mit - trotz Kälte, trotz Gestank. "Er wollte nicht mit ohne seine Frau", sagt Christof Lochner. In der Bayernkaserne gibt es keine Zimmer, in denen Männer und Frauen gemeinsam schlafen könnten. Doch oft wollen sich Paare nicht trennen und schlafen dann lieber zusammen auf der Straße. Sie wolle sich dafür einsetzen, dass in Münchens Notunterkünften in Zukunft auch Zimmer für Paare entstehen, sagt Verena Dietl.

Oft haben Wohnungslose Angst vor den Unterkünften
Doch auch der nächste Mann, der mit einer Zigarette zwischen den Lippen auf einer dünnen Matte vor einem Schaufenster sitzt, will nicht mitfahren. In der Bayernkaserne sei ihm alles geklaut worden, so erzählt er. Ob das stimmt? "Wir nehmen grundsätzlich alles, was uns die Menschen erzählen ernst", sagt Ellen Mayrhofer. Die wahren Gründe, warum Menschen lieber draußen frieren, als mitzukommen, erfahre man allerdings meist erst nach Jahren, sagt Lochner. "Man könnte Bücher darüber schreiben." Doch alle, die er an diesem Abend aufzählen kann, beginnen mit Angst: vor Fremden, vor Diebstahl, vor Veränderung.
Große Erfolgsmomente gibt es selten
Die Streetworker geben dem Mann eine Adresse, wo er duschen kann und wo er etwas zu essen bekommt. Dass es jemand von der Straße in eine eigene Wohnung schafft, seien seltene Erfolgsmomente, sagt Lochner. Er habe sich deshalb angewöhnt, sich über die kleinen Dinge zu freuen. Und, wenn jemand nach Monaten wieder warm duschen kann, sei das so ein Moment.