Missbrauchsgutachten: Die "Bilanz des Schreckens"

Das Missbrauchsgutachten für das katholische Erzbistum München und Freising legt erschreckende Zahlen offen. Besonders im Fokus: Papst Benedikt XVI.Der weist jede Schuld von sich - allerdings wenig glaubwürdig.
Ruth Schormann
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Joseph Ratzinger als Erzbischof der Erzdiözese München und Freising im Liebfrauendom. In dieser Zeit soll er in mehreren Fällen Priester mit Missbrauchsvergangenheit wissentlich im Bistum aufgenommen und eingesetzt haben.
Joseph Ratzinger als Erzbischof der Erzdiözese München und Freising im Liebfrauendom. In dieser Zeit soll er in mehreren Fällen Priester mit Missbrauchsvergangenheit wissentlich im Bistum aufgenommen und eingesetzt haben. © Hartmut Reeh/dpa

München - Es sind Zahlen, die sprachlos machen. Zahlen, hinter denen Menschen und ihr Leid, lebenslange Traumata und beispiellose Vertuschung stehen. Und das sind nur die bekannten, das Hellfeld - das Dunkelfeld derjenigen, die im Bistum München und Freising Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, ist viel größer, davon sind die Gutachter der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) überzeugt.

Missbrauchsgutachten: Viele Zahlen, Akten und Zeitzeugenbefragungen

Viele Zahlen nennt Rechtsanwalt Martin Pusch gestern, als er das mit Spannung erwartete, knapp 1900 Seiten und vier knallrote Buchbände umfassende Missbrauchsgutachten für das katholische Erzbistum München und Freising in den Jahren 1945 bis 2019 mit seinen Kollegen vorstellt. Es stützt sich auf Akten und Zeitzeugenbefragungen.

Ulrich Wastl, Marion Westpfahl und Martin Pusch von der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl.
Ulrich Wastl, Marion Westpfahl und Martin Pusch von der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl. © picture alliance/dpa/dpa POOL

Mehrere Hundert Täter und fast 500 Geschädigte

Die Ergebnisse: 235 mutmaßliche Täter haben die Gutachter ermittelt, 173 davon waren Priester, neun Diakone. Die Gutachter erhielten Kenntnis von mindestens 497 Geschädigten, überwiegend Buben im Alter zwischen acht und 14 Jahren. 42 Fälle haben die Gutachter an die Münchner Staatsanwaltschaft übergeben, so Pusch. Die Ermittlungen dauerten an.

Das "erschreckende Phänomen der Vertuschung", wie es Marion Westpfahl nennt, zeigt sich auch darin, dass in 40 Fällen die Beschuldigten, teilweise staatlich verurteilten Täter (in 18 Fällen), weiter im Seelsorgedienst tätig blieben.

So auch im besonders brisanten Fall H. um einen an mehreren Orten im Erzbistum tätig gewesenen Priester, der in den vergangenen Tagen bereits in der Presse aufgegriffen wurde - auch die AZ berichtete.

Joseph Ratzinger: Bischof und Papst spielt zentrale Rolle

Im Fall X, wie ihn die Gutachter nennen, spielt auch der einstige Kardinal Joseph Ratzinger, Erzbischof in München und Freising von 1977 bis 1982 - und heutiger emeritierter Papst Benedikt XVI - eine zentrale Rolle.

Anders als beim ersten Missbrauchsgutachten im Jahr 2010 musste das damals festgestellte Verhalten Ratzingers nun korrigiert werden, so Westpfahl. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger habe in seiner Zeit als Münchner Erzbischof Missbrauchstäter "mit hoher Wahrscheinlichkeit" wissentlich in der Seelsorge eingesetzt und darüber die Unwahrheit gesagt. In vier Fällen werfen ihm die Gutachter Fehlverhalten vor.

Umfassende Stellungnahme von Ratzinger zu Vorwürfen

Der heute 94-Jährige äußerte sich, nach "anfänglicher Abwehrhaltung", wie Pusch erläuterte, umfassend in einer 82 Seiten umfassenden Stellungnahme zu den Vorwürfen. Eingangs betont der gebürtige Oberbayer dabei, dass er sich auch heute noch sehr gut an "Jahrzehnte zurückliegende Sachverhalte" erinnern könne.

Papst Benedikt: Habe davon nichts gewusst

Aber: Papst Benedikt weist alle Schuld von sich, habe von nichts gewusst und im Fall H. auch nicht Kenntnis davon gehabt, dass es sich bei dem Mann um einen bereits verurteilten pädophilen Missbrauchstäter handelte, als er ihn ins Erzbistum München und Freising übernahm. Dort missbrauchte der Geistliche später erneut Kinder und wurde dafür rechtskräftig verurteilt (AZ berichtete).

An einer entsprechenden Sitzung, in der diese fatale Übernahme beschlossen worden sein soll, habe er nicht teilgenommen, behauptet der Papst emeritus jetzt. Dem aber widerspricht ein Protokoll jener Ordinariatssitzung vom 15. Januar 1980, wie Rechtsanwalt Ulrich Wastl ausführte, der zur Verdeutlichung eine Kopie des Protokolls in die Luft hob. Es gibt laut Wastl mehrere Stellen in dem Protokoll, wo Ratzinger namentlich erwähnt wird und von einem Gespräch mit Papst Johannes Paul II. berichtet.

Glaubwürdigkeit Ratzingers wird angezweifelt

Kurzum: "Wir halten die Aussage des Papstes, er sei nicht anwesend gewesen, für wenig glaubwürdig", formulierte Wastl. Die "Mär", H. sei einmal in seinem Heimatbistum Essen straffällig geworden und dann nie mehr, stimme nicht. Die Gutachter hätten Hinweise, dass es sowohl in der ersten als auch der dritten Stelle, in die H. versetzt wurde, zu sexuellem Missbrauch kam.

Und: Der damalige Generalvikar Gerhard Gruber hatte 2010 die Entscheidung, H. eingesetzt zu haben, als Alleinverantwortlicher übernommen. Das relativierte er nun.

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Unzureichende Aufarbeitung in den betroffenen Pfarrgemeinden

Wastls Appell: Künftig sollte ein unabhängiges Gremium in Versetzungsentscheidungen von solchen Priestern eingebunden werden. Denn: "Irgendwann wird der Verantwortungsträger ungewollt zum Komplizen des Täters." Besonders im Hinblick auf den Fall H. machten die Gutachter deutlich, dass eine echte Aufarbeitung und Aufklärung in betroffenen Pfarrgemeinden unzureichend stattgefunden habe.

Das Gutachten stellt der Diözese insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus. Ein aktives Zugehen auf die Opfer gebe es nicht, so Pusch.

Der Vatikan kündigte derweil an, sich das Münchner Gutachten genau anschauen zu wollen.

Eine neue Anlaufstelle des Bistums für Opfer ist nun erreichbar unter 089213777000.

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8 Kommentare
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  • BBk am 21.01.2022 11:56 Uhr / Bewertung:

    Leider hat vorhin der Platz nicht mehr gereicht um meinen vollständigen Kommentar anzuzeigen also hier noch der Schluss:
    Anstatt den Missbrauch aufzuklären wie es eigentlich Gebot im Rahmen seiner Aufgaben der Glaubenskongregation gewesen wäre hat er alles getan um Täter zu schützen, die Opfer als die Versucher des Teufels und als Täter zu stilisieren.
    Offiziell hat er immer so getan als wäre er an der Aufklärung interessiert aber es war ihm natürlich bewusst dass er dann seine eigenen Verfehlungen und die seines Bruders ans Licht hätte bringen müssen.

    Dieser Anti-Papst erinnert an die düstersten Prophezeiungen aus dem Evangelium des Johannes.

  • Fußball-Fan am 21.01.2022 10:54 Uhr / Bewertung:

    Niemand wird gezwungen in der katholischen Kirche zu bleiben. Austreten. In Massen.

  • BBk am 21.01.2022 09:48 Uhr / Bewertung:

    Dieser Mann ist ein Verräter des Glaubens und ein Verräter an Jesus Christus für ihn ist Jesus nicht am Kreuz gestorben.

    Dieser Mann ist ein Teufel auf dem heiligen Stuhl Petri ein Schein-Papst der unendliches Leid über uns alle bringt.
    Die wenigen Opfer die jetzt auch noch aktenkundig geworden sind sind nur die Spitze des Eisbergs und lassen erahnen wie schlimm diese Missbraucher ketzerisch unter dem Schutz der Kirchenoberen gewütet haben.

    Er aber selbst ist der schlimmste Ketzer der systematisch an der Zerstörung des katholischen Glaubens gearbeitet hat. Allein die Vermessenheit sich zum Papst wählen zu lassen mit dieser ungeheuren Schuld ist extrem widerlich.
    Man denkt der Teufel persönlich hat ihm dies alles eingegeben - vielleicht müsste man ihn exorzieren
    Er hat schon als Vorsitzender der Glaubenskongregation, der Nachfolgeorganisation der Inquisition, ein System aufgebaut dass alles dies vertuschen sollte anstatt den Missbrauch aufzuklären

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