Missbrauchsbericht der Kirche: Sumpf aus Sex und Lügen
MÜNCHEN - Mindestens 159 Priester sind im Erzbistum München und Freising wegen Misshandlungen straffällig geworden - doch längst nicht alle wurden verurteilt. Am Freitag wurde der Missbrauchsbericht der Kirche veröffentlicht.
Es war kein angenehmer Termin für Kardinal Reinhard Marx und seinen Generalvikar Peter Beer. Im Gegenteil. Was ihnen Rechtsanwältin Marion Westpfahl am Freitag in Form ihres 250 Seiten starken Missbrauchsberichts vorsetzte, war schlicht ein Scherbengericht: In der Diözese München und Freising herrschte zwischen 1945 und 2009 ein Klima der Vertuschung und Verfälschung. Opfer wurden schlicht ignoriert, Täter geschützt und gehätschelt. Schwule Priester mussten mit massiver Erpressung rechnen. Und die Dokumentation dieser Vorfälle war skandalös schlampig.
Im April hatte die Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl vom Ordinariat den Auftrag bekommen, sexuelle und sonstige körperliche Übergriffe durch Kirchen-Mitarbeiter der letzten 64 Jahre zu untersuchen und zu bewerten. Über 13200 Akten wurden in den letzten Monaten „nach Hinweisen auf etwaige einschlägige Vorfälle“ untersucht, in 365 wurden welche entdeckt.
DIE WICHTIGSTEN ZAHLEN
159 Priester wurden „einschlägig auffällig“, sagt Marion Westphal. Sie betont aber, dass damit „sicherlich nicht alle Übergriffe erfasst sind“ – die Dunkelziffer liegt ihrer Meinung nach „deutlich höher“. 26 Pfarrer wurden wegen Sexualdelikten verurteilt – sie sind alle mittlerweile tot.
Bei weiteren 17 Geistlichen fanden die Ermittler Nachweise für Sexualdelikte. Dazu zwei Verurteilungen wegen „sonstiger körperlicher Misshandlung“ – aber 36 Misshandlungs-Beweise. Sechs weitere Verurteilungen von Pfarrern sind zwar aktenkundig – es ist aber unklar, warum. Auffällig wurden auch 15 Diakone, sechs Gemeinde- oder Pastoralreferenten und Jugendpfleger. Und 96 Religionslehrer. Nur einer wurde verurteilt. 24 körperliche Misshandlungen sind nachweisbar – und keine Verurteilung.
AKTEN-VERNICHTUNG
Die Anwälte stießen bei ihrer Arbeit immer wieder auf Hinweise für Schlamperei und Sabotage in erheblichem Umfang. Von „gelinde gesagt, gravierenden Mängeln“ spricht Westpfahl. Akten verschwanden, landeten in Privatwohnungen, jedermann hatte Zugang und konnte missliebige Einträge entfernen. Westpfahl: „Das hat mit Schlamperei nichts zu tun. Das ist eine Grundhaltung.“
DIE OPFER
Im Ordinariat wurde Opfern nicht geholfen, sie hatten mit „vollständiger Nichtwahrnehmung“ zu rechnen. Ihnen wurde sogar noch eine Mitschuld an sexuellen Übergriffen zugewiesen. Marion Westpfahl weist ganz klar der Kirche die Verantwortung dafür zu, dass zum Opfer gewordene Kinder dadurch „oftmals noch der Belastung kindlicher Vereinsamung“ ausgesetzt wurden. Besonders krass für die Anwältin: Es wurde sehenden Auges in Kauf genommen, dass sich ein einschlägig aufgefallener Pfarrer weitere Opfer suchen konnte – weil er „unter Verschweigen der Hintergründe“ versetzt wurde.
DIE TÄTER
Wehleidigkeit und Selbstmitleid sind laut Bericht ihre typischen Charakteristika. Sie sind „psychisch und physisch gering belastbar“. Überwiegend seien sie zwischen 45 und 65 Jahre alt – und normalen Alltags-Aufgaben nicht gewachsen. Häufig spielt Alkoholmissbrauch eine Rolle. Und: Sie sind überwiegend auf dem Land eingesetzt – dort, wo ein Pfarrer noch etwas gilt.
UMGANG MIT SCHWULEN
Homosexuelle Kleriker haben einen schweren Stand, so Marion Westpfahl: „Sie unterliegen bedauerlicherweise einem besonderen Erpressungspotenzial“ – auch im Münchner Ordinariat, auch wenn sie höhere Ämter bekleiden.
DIE ROLLE RATZINGERS
In der Amtszeit des jetzigen Papstes (1977 bis 1982) wurde ein Fall aktenkundig, in den der Kardinal persönlich verwickelt war: Er wies in einem Brief „die wehleidige Reaktion“ eines ertappten Pfarrers zurück. Der Geistliche „durfte nicht mehr Priester sein“, so die Anwältin.
DIE KONSEQUENZEN
„Wir dürfen nicht in einer Betroffenheitskultur steckenbleiben“, warnte Marion Westpfahl am Freitag. Um Missbrauch zu unterbinden, soll die Rolle des Missbrauchsbeauftragten gestärkt werden, er soll über das Vorgehen und die Einschaltung staatlicher Stellen entscheiden. Und: Die Aktenführung muss aus Sicht des Ordinariats „revolutioniert“ werden (Westpfahl) – das heißt: Sie muss auf den üblichen Stand gebracht werden.
Die Anwältin empfiehlt eine „straffere Personalführung, die auch vor Konsequenzen nicht zurückschreckt“. Und eine bessere Priesterausbildung. Rudolf Huber
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