Interview

Missbrauch in Münchner Heimen: "Auch bei der Stadt gab es ein Versagen"

Fast 20 Jahre lang hat Ignaz Raab bei der Polizei Sexualstraftäter verfolgt. Nun ist er aus dem Ruhestand zurück: Er will den Missbrauch in städtischen Heimen aufklären.
von  Christina Hertel
"Ich glaube erst einmal jedem" - Ignaz Raab will die Betroffenen ernstnehmen.
"Ich glaube erst einmal jedem" - Ignaz Raab will die Betroffenen ernstnehmen. © Sigi Müller

München - Über Jahrzehnte wurden Kinder in städtischen Heimen missbraucht. Täter sollen Beschäftigte der Heime und Geistliche gewesen sein. Verantwortlich war aber auch die Stadt. Denn sie brachte die Kinder dort unter oder betrieb die Heime gemeinsam mit der Kirche.

Vieles, was geschah, ist schon lange bekannt. Doch erst vergangenes Jahr hat die Stadt eine Kommission gegründet, die die Missbrauchsfälle aufarbeiten und Betroffene entschädigen soll. Leiter ist Ignaz Raab, 63, der vor seiner Pension bei der Münchner Polizei das Kommissariat für Sexualdelikte anführte.

Ignaz Raab will Behördenversagen in Münchner Heimen schonungslos aufarbeiten

AZ: Herr Raab, Sie haben 18 Jahre lang Sexualstraftäter verfolgt. Jetzt sind Sie aus dem Ruhestand zurück. Haben Sie noch immer nicht genug?
Ja, weil ich das Thema wichtig finde. Ich habe 2019 bei der Polizei eine Kommission gegründet, die die Missbräuche im Erzbistum München und Freising aufbereitet. Damals ist viel schief gelaufen. Die Kirche hat damals das Wohl der Täter über das Wohl der Betroffenen gestellt. Gleichzeitig haben Stadt und Kirche Heime gemeinsam betrieben. Und auch bei der Landeshauptstadt München gab es Behördenversagen. Es gab Hinweise, dass es Kindern nicht gut ging. Das ist für mich der Grund, das jetzt schonungslos aufzuarbeiten.

Raab beim Interview mit AZ-Rathausreporterin Christina Hertel.
Raab beim Interview mit AZ-Rathausreporterin Christina Hertel. © Sigi Müller

Was tut Ihre Kommission?
Wir wollen zuhören, anerkennen, den Betroffenen finanzielle Unterstützung geben und die Täter, so weit wies geht, verfolgen. Wir wollen auch herausfinden: Woran lag es, dass Kinder jahrelang missbraucht wurden und keiner reagierte.

Wo hat die Stadt versagt?
Zum Beispiel hat Dr. Christine Rädlinger 2014 eine wissenschaftliche Aufarbeitung über den Missbrauch in städtischen Heimen geschrieben. Aber der Bericht ist in einer Schublade gelandet. Das ist jetzt neu: Die Stadt wird Konsequenzen ziehen müssen.

Missbrauch in Heimen: "Es sind einfach furchtbare Geschichten"

Was hat sich in den Heimen abgespielt?
In manchen Heimen haben die Kinder immer in der Früh gewusst, wer missbraucht wurde. Weil derjenige dann sein Frühstück im Stehen eingenommen hat, weil ihm das Gesäß so wehgetan hat. Es gab Heime, in denen bestimmte Pfarrer immer ihren Urlaub verbracht haben, weil dort die Kinder nicht nach Hause geschickt wurden. Es sind einfach furchtbare Geschichten und ich will gar nicht so sehr ins Detail gehen.

Seit Juli gibt es eine neue Anlaufstelle für Betroffene. Wie viele haben sich gemeldet?
25.

Hätten Sie mit mehr gerechnet?
Mit viel mehr. Dr. Christine Rädlinger hat in ihrer Arbeit von rund 3.000 Kindern gesprochen, die zwischen 1945 und 1999 in städtischen Heimen gelebt haben. Viele Kinder wurden zum Glück nicht missbraucht, vor allem die nicht, die am Wochenende oder in den Ferien nach Hause fahren konnten. Die Täter haben sich bewusst Kinder ohne soziale Kontakte herausgesucht. Aber die Aufarbeitung ist lange nicht fertig. Das Ausmaß können wir erst in zwei, drei Jahren abschätzen.

Auf der Suche nach den Tätern – können sie noch bestraft werden?

Können Täter noch belangt werden?
Unsere Kommission will das, was strafrechtlich verfolgbar ist, verfolgen. Aber wahrscheinlich sind viele Taten verjährt. Heute hat ein Kind, das missbraucht wird, nach seinem 18. Lebensjahr noch 30 Jahre Zeit, bis die Verjährung einsetzt. Aber es ist immer das Recht entscheidend, das am Tatzeitpunkt gegolten hat. Und vor 30 Jahren waren die Verjährungsfristen kürzer.

Wie wichtig ist es den Betroffenen, dass die Täter bestraft werden?
Das ist vielen sehr wichtig. Ein Betroffener schreibt uns regelmäßig mit so einer Wut und so einem Zorn. Ich bin ihm aber nicht böse. Es ist ja klar: Vor 30 Jahren wurde er schwerst missbraucht, dann ist er noch mal 30 Jahre gegen Mauern gelaufen. Dass dann nur noch Wut da ist, ist kein Wunder.

Die Stadt hat Entschädigungen versprochen. Wie viel bekommen die Betroffenen?
Ich gehe davon aus, dass es mindestens eine hohe fünfstellige, wenn nicht sechsstellige Summe sein muss. Doch das steht noch nicht fest. Bis jetzt hat der Stadtrat 800.000 Euro Soforthilfen bewilligt. Das ist für die Menschen gedacht, die keine Zeit mehr haben und in finanziellen Nöten stecken. Viele sind so traumatisiert, dass sie nie normal eine Lehre machen und arbeiten konnten. Heute leben sie am Existenzminimum.

"400.000 Menschen sind schätzungsweise pädosexuell"

Muss man beweisen, was einem angetan wurde?
Wir prüfen natürlich die Akten. Doch mein Credo ist: Ich glaube zunächst. Für Betroffene wäre es der Supergau, wenn nicht mal wir glauben würden.

Wer geht ran, wenn man bei der Anlaufstelle anruft?
Wir haben uns eine kompetente Stelle gesucht, die seit Jahren mit Betroffenen arbeitet, und zwar den Kinderschutz München Da gibt es Sozialarbeiter und Psychologen. Sie helfen auch, die Anträge für eine Entschädigung auszufüllen.

Wie hat sich durch Ihre Arbeit der Blick auf den Menschen verändert?
Der Blick auf Institutionen wie die Kirche hat sich verändert. Aber mein Menschenbild? Nein. 400.000 Menschen sind schätzungsweise pädosexuell. Ich weiß, dass viele für ihre Anlagen nichts können. Es ist eine Frage, wie man damit umgeht. Deshalb verurteile ich die Tat, aber nicht den Täter.


Betroffene können sich unter anlaufstelle@kinderschutz.de und unter Tel. 231716-9170 an die Anlaufstelle wenden.

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